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Montag, 1. Mai 2017

Anne Weber "Kirio" - ein hermetischer Roman?

Im ersten Absatz ihres neuen Romans „Kirio“ lädt Anne Weber – beziehungsweise ihr geheimnisvoller Erzähler – den Leser zu einem Spielchen ein:

„Wer ich bin? Vielleicht wird es sich im Laufe dieser Geschichte herausstellen. Im Moment wüsste ich es selbst nicht mit Gewissheit zu sagen. Aber ich habe die Hoffnung, einem Detektiv in die Hände gefallen zu sein. Einem Leser mit detektivischem Gespür. Und am besten einem ebensolchen Autor. Wenn ich Glück habe und sie es darauf anlegen, werden sie mir auf die Spur kommen. Und am Ende werden wir alle wissen, mit wem oder was wir es zu tun haben.“

Der Roman hat viele positive Rezensionen bekommen und stand sogar auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis. Keiner der Rezensenten hat Anne Webers Spielchen ernst genommen, und keiner hat sich etwas zum wunderlichen Titelnamen einfallen lassen. Gewiss, das Buch lässt sich offenbar auch so mit Gewinn und Vergnügen lesen. Aber die Geschichte vom sympathischen Sonderling Kirio, der am liebsten auf den Händen läuft und sich Rad schlagend fortbewegt mit der Klassifizierung als „modernes Märchen“  oder „Anknüpfung an die Tradition der Heiligenlegende“ ad acta zu legen, greift dann doch zu kurz.

Ich gebe zu, es hat auch bei mir eine Weile gedauert, bis der Groschen gefallen ist. Auf halbem Wege hatte ich eine Vermutung, aber da sie meinen antiken Lieblingsgott betraf, der noch vor kurzem in meiner Besprechung von Ann Cottens Versepos „Verbannt“ eine wichtige Rolle gespielt hat, dachte ich nur: „Sie wird doch wohl nicht...?“

Doch, sie hat! Auf Seite 173/74 gibt der merkwürdige Erzähler, der zwischendurch die Erzählrolle wiederholt auch an menschliche Figuren abgegeben hat,  den soundsovielten Hinweis auf seine Identität.  Immer wieder im Verlauf des Romans hat er darauf verwiesen, dass er nicht menschlich sei. Es gebe ihn seit vielen tausend Jahren. „Es könnte sein, dass ich ein Botschafter bin.“ Das steht schon auf Seite 7.  Und nun: Es gebe da einen Verwandten, einen entfernten Vetter, und dann spricht er vom Planeten Jupiter. Na also: Es geht tatsächlich um Merkur, den die griechisch-römische Antike zum Götterboten gemacht hat.

Anne Weber benutzt den Hermes/Merkur-Mythos in einer raffinierten Dopplung: Die Geschichte von Kirio ist ihre eigenzeitliche Neuerzählung der antiken Sage (die am ausführlichsten in Homers „Hymnos an Hermes“ dargestellt ist). Sie benutzt viele der Merkmale und Eigenschaften von Hermes, verfremdet sie aber und das oft auf kuriose Weise. Sie schreibt sich frei. Das muss großen Spaß gemacht haben. “Die Welt nach links zu drehen, das wäre eine Beschäftigung, an der ich dauerhaft Freude haben könnte” schrieb sie am Anfang ihres Buches “Besuch bei Zerberus”. “Kirio” ist die auf links umgestülpte Geschichte von Hermes.

Für Zweifler hier eine Reihe paralleler Elemente bei Homer und Weber:

Homer                                   Weber

Geburt in einer Höhle            Geburt im Autobahntunnel (16f.)
geflügelte Füße                      Handstand/Radschlagen (passim)
Hirtenflöte                              Flöte (92ff.)
Heroldsstab                            Angelrute (27f.)
Geldbeutel                              Münzen (149)
Rinderherde läuft rückwärts   Umkehrung Hauseinsturz (182f)

Aber das Neuerzählen allein genügt Anne Weber nicht. Sie hat in all ihren Romanen gezeigt, dass sie ein besonderes Verhältnis zur Theorie hat: Literaturtheorie, Geschichtstheorie. Ihre mysteriöse Erzählerfigur ist in gewisser Weise ebenfalls der Gott Merkur, aber gleichzeitig auch die Personifikation des Mythos in seiner Funktion des Umgangs mit der Wirklichkeit, also mehr ein abstraktes Prinzip. Dazu hat die Autorin ihrem Erzähler einiges mitgegeben. Spielerisch! Amüsant!

Am Ende des Romans fragt der Erzähler:

“Wie war es also in Wirklichkeit? Ich erwäge kurz, als letzte Erzählerin die Wirklichkeit zu befragen, doch wird mir schnell klar, dass sie die Einzige unter meinen zahlreichen Bekannten ist, die über keinerlei Sprache verfügt. Nicht nur, dass ihr keines der menschlichen Idiome zu eigen ist; sie verfügt auch nicht über eine andere arteigene Sprache, wie etwa die Bienen […] Wie könnte sie da das letzte Wort haben?” (S. 216).

Und dann bekommt die Wirklichkeit doch das letzte Wort, nur dass es kein Wort ist, sondern ein Vorgang in der Realität: Der Planet Merkur steht am nächsten zur Sonne. Er ist am Abendhimmel nur schwer zu sehen und verschwindet schnell wieder. Der antike Mythos ist eine Verbildlichung dieser astronomischen Wirklichkeit.

Kirio wird am Ende vor dem Brüder-Grimm-Denkmal (!) auf dem Marktplatz in Hanau von sieben Jugendlichen bedroht (apropos: das sind die sieben anderen Planeten). Ein alter kleiner Mann mit rundem Kopf stellt sich schützend vor ihn:

“Es gibt ein altes Kinderspiel, bei dem ein Turm aus Händen entsteht, von denen immer wieder die unterste weggezogen und obenauf gelegt wird, schnell und schneller, und in diesem Turm, der gleichermaßen wächst und schwindet, liegt die Andeutung einer Unendlichkeit.
Der kleine Tänzer stellte sich vor Kirio, Kirio stellte sich vor den kleinen Tänzer, der kleine… Dann war der Kreis, in dem die beiden eben noch gefangen gewesen waren, leer.
Mind the gap!” (S.216f.).

Der kleine Tänzer ist die Sonne, um die sich der Merkur in hohem Tempo dreht. Merkur verschwindet im Schutz der Sonne.


Last but not least: “Kirion” ist griechisch und heißt “Herr” in der Anrede einer Gottheit.

"Kirio" ist auf deutsch bei S. Fischer (Frankfurt am Main 2017, 217 Seiten, 20 Euro) und gleichzeitig auf französisch bei den Editions Seuil erschienen.

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