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Dienstag, 14. März 2017

Benedict Wells - Interview und Soundtrack zu "Vom Ende der Einsamkeit"


Zur Einstimmung auf unsere Besprechung des Romans „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells diese Woche in Drachten:




Die Romanfiguren von Benedict Wells spielen oder hören oder erinnern im Verlauf der Handlung eine Reihe von Songs, die zu ihrer Charakterisierung oder zur Stimmung und Poetologie des ganzen Romans beitragen. Der Autor hat auf seinem Facebook-Account zu jedem seiner Romane einen Soundtrack zusammengestellt, der die musikalische Stimmung wiedergibt. Manche der Songs kommen explizit im Roman vor, manche nicht. Auf Youtube hat der Diogenesverlag entsprechende Playlists zusammengestellt. Hier ist der "Soundtrack" zu "Vom Ende der Einsamkeit":

Paperbackwriter (The Beatles), S. 15, 267
Moon River (Patty Griffin), S. 35, 72, 294
Via Con Me (Paolo Conte), S. 92f., 121
Pink Moon (Nick Drake), S. 58, 167, 213, 321
Time Further Out (Brubeck), S. 192
Heroin (The Velvet Underground), S. 328
E is for Estranged (Owen Pallet)
Fare Thee Well, Miss Carousel (Townes Van Zandt)
This Must Be the Place (Talking Heads)
Take Five (The Dave Brubeck Quartett)
Between the Bars (Elliot Smith), S. 169
The Waves (Villagers)
Where is My Mind (Pixies)
Landslide (Fleetwood Mack)
Down to the Sea (Elephant Revival)
I still do (Kloot)
Across the Universe (Fiona Apple) = Abspann

Und hier ist die entsprechende Playlist, die der Diogenes Verlag auf Youtube gesetzt hat.

Sonntag, 5. März 2017

Stefan Zweig, Der Bierkrieg

Kriegsende 1919:

„Sogar Deutschland, wo die Inflation zuerst in viel langsamerem Tempo vor sich ging  (...), nutzte seine Mark gegen die zerfließende Krone aus. Salzburg als Grenzstadt gab mir die beste Gelegenheit, diese täglichen Raubzüge zu beobachten. Zu Hunderten und Tausenden kamen aus den nachbarlichen Dörfern und Städten die Bayern herüber und ergossen sich über die kleine Stadt. (…) Schließlich wurde auf Betreiben der deutschen Regierung eine Grenzbewachung eingesetzt, um zu verhindern, dass alle Bedarfsgegenstände statt in den heimischen Läden in dem billigeren Salzburg gekauft wurden. (…) Aber ein Artikel blieb frei, den man nicht konfiszieren konnte: das Bier, das einer im Leibe hatte. Und die biertrinkenden Bayern rechneten es sich am Kurszettel von Tag zu Tag aus, ob sie im Salzburgischen infolge der Entwertung der Krone fünf oder sechs oder zehn Liter Bier für denselben Preis trinken konnten, den sie zu Hause für einen einzigen Liter zahlen mussten. Eine herrlichere Lockung war nicht zu erdenken, und so zogen mit Weibern und Kindern Scharen aus dem nachbarlichen Freilassing und Reichenhall herüber, um sich den Luxus zu leisten, so viel Bier in sich hineinzuschwemmen, als der Bauch nur fassen konnte. Jeden Abend zeigte der Bahnhof ein wahres Pandämonium betrunkener, grölender, rülpsender, speiender Menschenhorden; manche, die sich zu
stark überladen, mussten auf den Rollwagen, die man sonst zu Koffertransporten benutzte, zu den Waggons geschafft werden, ehe der Zug, gefüllt mit bacchantischem Geschrei und Gesang, wieder zurückfuhr in ihr Land. Freilich, sie ahnten nicht, die fröhlichen Bayern, dass ihnen eine fürchterliche Revanche bevorstand. Denn als die Krone sich stabilisierte und dagegen die Mark in astronomischen Proportionen niederstürzte, fuhren vom selben Bahnhof die Österreicher hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen Irrsinnscharakter jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt."


Stefan Zweig, Die Welt von Gestern (1942), Berlin 2013, S. 336f.

Donnerstag, 2. März 2017

Jochen Schimmang überschreitet die Staatsgrenze oder: Groenewolds Traum


„Und dass sich herausstellte, dass der gute Mann, inzwischen in den hohen Achtzigern, keineswegsder Herr Groeneveld war, der eines Tages dieses Haus gekauft hatte und aus Groningen hierher gezogen war, ein ehemaliger Germanist an der dortigen Universität mit dem Spezialgebiet Arno Schmidt. Das hatte er seinen wenigen Nachbarn erzählt, die mit all dem wenig anzufangen wussten – mit der Germanistik und Arno Schmidt, meine ich, und Groningen war für sie sowieso ganz da oben im Norden – aber alles, was daran stimmte, war die Tatsache, dass es an der Groninger Universität tatsächlich mal einen Germanisten gegeben hat, der nicht Groeneveld, sondern Groenewold hieß und im Übrigen ein Deutscher war.“

Jochen Schimmang, Altes Zollhaus, Staatsgrenze West, Hamburg 2017, S. 51

Kompliziert: Herr Groeneveld heißt gar nicht Groeneveld und mit dem Groninger Germanisten Groenewold hat er angeblich auch nichts zu tun. Aber doch: Der Autor Jochen Schimmang hat in seinem neuen Roman einige grenzüberschreitende Fantasiefäden gesponnen und ein kleines wirklichkeitsverwobenes Erzählnetz zu beiden Seiten der deutsch-niederländischen Grenze aufgespannt.

Ein erstes Exemplar des gestern erschienenen Romans hat schon den Weg nach Groningen gefunden. Beim Hineinblättern stieß ich auf Herrn Groeneveld und seine Liebe zu Arno Schmidt. Der wiederum steht in meinem Bücherregal ganz in der Nähe von Jochen Schimmang (nur der Schlink hat sich dazwischengedrängelt). So finden und verwirren sich die Erzählknäuel, und auch Schmidts legendäres Großwerk “Zettel’s Traum”, das in kein Regal passt, hat darin seinen Ort. Da komme ich mir ein bisschen wie der arme Nick Bottom (= Zettel) aus Shakespeares Mittsommernachtstraum vor.

Jochen Schimmang 1970 (neben Zettel's Traum)


Jetzt muss ich das Buch erst mal lesen. Später mehr dazu. Im Deutschlandradio gibt es eine erste Rezension.

Jochen Schimmang, Altes Zollhaus, Staatsgrenze West, Hamburg 2017, 189 Seiten, € 19,90

Mittwoch, 1. März 2017

Findelverse (6): Vorfrühling

Hugo von Hofmannsthal (1892)

Vorfrühling

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.

Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.

Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.

Er glitt durch die Flöte,
Hugo von Hofmannsthal mit 19 (1893)
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.

Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.

Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.

Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten

Und den Duft,
Den er gebracht,
Von wo er gekommen
Seit gestern Nacht.