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Mittwoch, 14. September 2016

Kracht lässt es krachen – Zu einem wundervollen Satz aus „Die Toten“

Was unterscheidet Christian Krachts Romane von anderen Romanen der Gegenwart? Zunächst einmal eine sehr artifizielle Langsätzigkeit im Geiste Thomas Manns, oft gefüllt mit den zahlreichen Konjunktiven der indirekten Rede, inhaltlich offen für Ironie und deutliche Urteile des Erzählers.

Manchmal vollzieht der Autor innerhalb solch eines Satzes einen optischen Zoom auf ein sehr kleines Geschehen, das die beschriebene Szene der handelnden Figuren auf eine beinahe surreale Weise kommentiert. Solche Sätze gewinnen enorm an Aussagekraft und Kuriosität. Wer „Imperium“ gelesen hat, wird sich gewiss an den Satz erinnern, in dem ein Moskito zum Stich in den Nacken des Gouverneurs Hahl anfliegt (Imperium, S. 52f., ich zitiere ihn hier nicht; der Zusammenhang findet sich in meinem Beitrag über „Imperium“).

In „Die Toten“ hat zum Beispiel der folgende Satz diese Qualität:

„Ida, das junge deutsche Mädchen, das genauestens hingehört hatte, wollte bemerken, daß allein der nanshin-ron – der südliche Expansionsweg – Japan zum Erfolg führen werde, da riß sie plötzlich, als sei sie durch etwas geblendet worden, ihre Hände vor das Gesicht, zu spät, das Niesen hatte sich schon aus ihren Zügen gelöst, wie ein Taifun blies es nach vorne, ein langer, glitzernder Tropfen baumelte von ihrer Nase, und es spiegelten sich darin nicht nur die Reispapierwände des Séparées und die warmgelben Lampen an der Decke, sondern auch die völlig entsetzten Mienen der anwesenden Japaner” (Die Toten, S .99).

Aus diesem Satz den Schluss zu ziehen, der ganze Roman sei ein “Machwerk”, da die dort beschriebene Spiegelung physikalisch unmöglich sei (so Sieglinde Geisel im “Magazin für Literatur und Zeitgenossenschaft”), zeugt von einem recht grundsätzlichen Unverständnis der Literatur Christian Krachts. (Das kommt ja häufiger vor: Denken wir an den unsäglichen Artikel von Georg Diez im “Spiegel”,  und auch bei den Rezensionen zu “Die Toten” zeigt sich manchmal pures Unvermögen, z.B. bei Sabine Vogel in der Frankfurter Rundschau).



Natürlich hat die Szene mit dem Nasentropfen etwas Surreales, aber in ihrer kuriosen Ekligkeit und mit dem Entsetzen, das der Etikettebruch bei den Japanern auslöst, gewinnt sie eine enorme Aussagekraft. Die Zeit scheint einen Augenblick angehalten zu werden. Der Leser verharrt auf der Stelle, um sich über das Gelesene Klarheit zu verschaffen. Er liest den Satz noch einmal und genießt...

Kracht verfügt über ein ganzes Instrumentarium solcher Aussageverstärker. Dazu mehr im folgenden Beitrag.

Dienstag, 13. September 2016

Christian Kracht vs Harald Schmidt 2001

In einer der Rezensionen zu Christian Krachts Roman „Die Toten“ (2016) wird an den Auftritt im Jahr 2001 des damals 35jährigen Autors in Harald Schmidts Late-Night-Show erinnert. Thema ist sein Roman „1979“, aber vor allem geht es hier um die Performance. Es lohnt sich in der Tat, sich das (noch) einmal anzusehen, wenn man sich dem Phänomen Kracht und seinem neuen Roman nähern möchte.    


Montag, 12. September 2016

Christian Kracht, die Toten und der zartviolette Bleistift

Christian Krachts „Die Toten“ ist ein hochartifizieller Roman, eigentlich eine Novelle. In ihr verbinden sich Kunst, Politik, Gewalt und Tod zu einem ungewöhnlichen sprachlichen Kunstwerk, das in der deutschen Gegenwartsliteratur ohne Vergleich ist.

Bei Novellen denkt der Germanist sofort an das Dingsymbol (einen leitmotivischen Gegenstand), das in der Literaturwissenschaft damit verbunden wird. Und ja, wir werden bei Kracht fündig: Seine Hauptfigur, der Schweizer Regisseur Nägeli, ergeht sich immer wieder in Erinnerungen an die Kindheit und an den Vater, dessen Tod er erlebt hat. Der Vater benutzte einen „zartvioletten Bleistift“ (zum ersten Mal auf Seite 40 erwähnt).


Dieser Bleistift kehrt noch zwei Mal wieder. Der Autor Kracht lässt ihn scheinbar unmotiviert und quasi aus dem Nichts in der Handlung materialisieren: Nägeli wartet, auf einem Stuhl sitzend, auf seine Audienz beim Medientycoon Alfred Hugenberg. Ungeduldig „rollt er mit dem Schuh einen am Boden liegenden, zartvioletten Bleistift (der sich von irgendwoher durch den Äther dorthin manifestiert hat) hin und her“ (128). Kein Wort mehr, an dieser Stelle, was den Bleistift betrifft.

Und später noch einmal, Nägeli ist inzwischen in Japan, um im Auftrag von Hugenberg einen Film zu drehen: 

„Er fühlt etwas unter seinem Schuh, sieht nach unten zum Taxiboden hin und greift tastend danach. Es ist ein Bleistift, ein hellvioletter, den jemand dort vergessen hat. Er rollt die klickenden Seiten des achteckigen Tubus in der Hand und schiebt ihn sich in die Jacketttasche, als könne er den mnemonischen Zusammenhang ahnen und wolle den Stift nur so lange aufbewahren, bis er darauf komme, was gemeint gewesen ist“ (152). 

Das ist schon deutlicher: der Erzähler erinnert den Leser an den mnemotechnischen (und poetologischen) Zusammenhang des Stiftes. Und dann, wenige Seiten später, wie hingetupft, die poetische Essenz dieses Buches in einem vollkommenen Satz zur Zeit der Kirschblüte in Japan (Schönheit und Vergänglichkeit):

Nägeli „hält dann schließlich vor einem fast kahlen Kirschbaum inne, zu dessen zartvioletter (Hervorhebung von mir, P.G.) Blütenkrone er nun hinauf sieht, die Hände in die Hüften gestemmt.

Ein mechanischer Vogel aus kunstvoll bemaltem Blech sitzt dort im Baume auf dem Ast, putzt sich das Federkleid und tiriliert: Fi-di-bus. Eine Kirschblüte fällt im Sterben, stirbt im Fallen, so ist es vollkommen” (158f.).