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Mittwoch, 9. September 2015

Clemens Setz, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Ein Lesetagebuch (4) - Die Geburt der Universalpoesie aus dem Geiste des Internets.

Jetzt ist die Katze aus dem Sack: Iris Radisch rief gestern Abend in ihrem Gespräch mit Clemens J. Setz das Zauberwort in den vollbesetzten Saal im Haus der Berliner Festspiele: „Universalpoesie“!

Scharfe Hinterköpfe: Der Blick auf Clemens J. Setz
(Foto: Sophie Sumburane)
Überhaupt war Iris Radisch („Die Zeit“) hin und weg von den synästhetischen Wahrnehmungswelten der Hauptfigur Natalie aus Setz’ neuem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Sie sei neidisch!, ja neidisch!! auf die Fähigkeiten dieser Figur und meinte damit natürlich eigentlich den jungen Autor, der ob dieser Ausbrüche schüchtern, aber durchaus charmiert, ein wenig zusammenschrumpfte.
Universalpoesie: Das Programm der jungen Romantiker Friedrich Schlegel und Novalis, die in ihrer Literatur Traum und Wirklichkeit, Poesie und Leben zusammenbringen wollten. Totum simul: Alles auf einmal! Auf die Frage, ob er sich der Ähnlichkeit seines Konzepts mit der Frühromantik bewusst sei, nuschelte der sonst an diesem Abend so artikuliert und brillant formulierende Autor, dass es ja offenbar alles schon einmal gegeben habe... ach ja, die deutschen Romantiker... und schützte einen gewissen Abstand vor. Desgleichen auf die Gretchenfrage nach der Philosophie... nein, er habe keine philosophischen Relais in seinem Kopf.
Nun, vielleicht war das eine wunde Stelle oder der Wunsch, das Gespräch nicht auf einer rational-intellektuellen Ebene führen zu wollen. Iris ließ ihn gewähren. Völlig zu Recht, denn der neue Roman und die Wahrnehmungswelt des Clemens Setz sind auf eine revolutionäre Weise irr-rational und transhuman, sprachlich wie inhaltlich genialisch durchhaucht und durch und durch bestimmt von der augmented reality des Internets, der smartphones und ihrer applications.
Natürlich weiß Clemens Setz auch in einem rationalen Sinne, was er tut, und er kennt auch die deutschen Romantiker: Er hat Novalis’ Absetzung von den “Zahlen und Figuren” der Rationalisten ja klammheimlich in seinen Roman eingebaut (siehe das Ende meines gestrigen Blogbeitrags). Und zur Philosophie lässt er Natalie das Nötige sagen. Sie findet im Zimmer des von ihr betreuten Behinderten Bertrand Russells „Philosophie des Abendlandes“, nimmt das Buch mit, blättert darin und denkt verwundert:

„Warum schrieb jemand über solche Themen ein so dickes Buch? Dann googelte sie Bertrand Russell. Sie fand seinen Kopf interessant, seinen intensiven, kecken Blick. Philosoph und Mathematiker. Man könnte einen Stängel in diesen adeligen Kopf stecken und ihn als Lutscher verkaufen“ (S. 312).

Warum schreibt Clemens Setz über solche Themen ein so dickes Buch? Weil es so noch nie vor ihm jemand gemacht hat.


Es war ein schöner, humorvoller und tief beeindruckender Abend mit einem überwiegend jungen Publikum. Lang anhaltender Applaus!

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