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Dienstag, 11. August 2015

Die verspätete Literaturnation oder: Vom Tatort zu Breaking Bad

Seit langer Zeit habe ich nicht mehr einen derart anregenden literaturwissenschaftlichen Essay gelesen wie “Kinematik des Erzählens. Zum Stand der amerikanischen Fernsehserie” von Helmut Müller-Sievers im Juli-Heft des Merkur.
Das erste Resultat dieser Lektüre war, dass ich, statt irgendeine Wiederholung von "Tatort", angefangen habe, mir “Breaking Bad” anzusehen (und zwar dann gleich zeitgemäß auf Netflix). Ich habe einen Riesenrückstand, was die großen amerikanischen Fernsehserien der letzten 15 Jahre betrifft. Und Vorurteile! Und eine Blockade: Ich konnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, dass ich an einem Abend mehrere Folgen hintereinander gucken würde.

Breaking Bad: Walter White
Das geht aber prima! Der überaus klug eingebaute Suchtfaktor ist auch bei mir wirksam. Und damit sind wir beim Thema: dem was Helmut Müller-Sievers die „Kinematik“ des Erzählens nennt. Er holt dazu ein wenig aus und beginnt seinen Essay im 19. Jahrhundert mit der Geburt des englischen Fortsetzungsromans in Charles Dickens’ "Pickwick Papers" (1836), die er mit der Einführung der maschinellen Rotationsprozesse in der Industrie in Zusammenhang bringt.
Und entsprechend macht er die Verzögerung der industriellen Revolution in Deutschland für das Ausbleiben des realistischen deutschen Romans auf dem Niveau der angelsächsischen Welt verantwortlich. Fontane kommt mit „Effi Briest“ (1896) erst 60 Jahre nach Dickens. Die modernen deutschen Autoren um 1900 demontieren den Realismus, bevor er überhaupt richtig angekommen ist. Dementsprechend fehlt diese Tradition und die mit ihr verbundene „Technik“ des Erzählens in der deutschen Literatur bis heute.
Wunderbar: Endlich habe ich die wirkliche Erklärung dafür, warum ich mit wachsender Begeisterung die Romane von John Updike, Philip Roth, Richard Ford, Richard Powers etc. lese, während mich die deutschen Autoren entweder mit Langeweile oder mit geschichtsphilosophischem Unbehagen erfüllen. Es geht um den „technischen Kern des Realismus“ oder – mit einem mir von früher her geläufigen Wort – um die Produktionsbedingungen:
„Es gehört zu den tragischen Missverständnissen vornehmlich der akademischen Literaturkritik, den literarischen Realismus als Eigenschaft der Repräsentation und nicht als Form der Produktion und Rezeption verstanden zu haben. Dies gilt insbesondere für die deutsche Kritik, in der Fragen der Geschichtsphilosophie, der Ästhetik und der Anthropologie die Anerkennung des technischen Kerns des Realismus verhindert haben.“
Helmut Müller-Sievers, Kinematik des Erzählens, Merkur Nr. 794, Juli 2015, 19-29, hier: 20
Wenn man dementsprechend die heutige Erzählproduktion in Literatur und Fernsehen auf ihren technischen Kern befragt, sind spannende Antworten und Einsichten zu erwarten.
“Wer denkt nicht beim Tatort sofort an die endlose Wiederkehr der Stopfkuchen-Provinz, bei Breaking Bad dagegen an Great Expectations?”
Na ja, ich nicht und viele andere wohl auch nicht, aber dass Helmut Müller-Sievers hier das Provinzielle des Stopfkuchen-Romans (1890) von Wilhelm Raabe mit dem heutigen Tatort (1970-2???) verbindet und die Modernität von Dickens Roman Great Expectations (1861) mit den atemberaubenden Staffeln von Breaking Bad (2008-2013), das ist - im Vergleich mit den einheimischen Germanisten - doch ein bemerkenswerter Erkenntnisfortschritt eines deutschen Literaturwissenschaftlers, der nun schon seit vielen Jahren in den USA lehrt und forscht.
Deutschland - die verspätete Nation: Helmut Plessners griffige Formel passt auch auf die deutsche Literatur- und Fernsehnation - und auf die Germanistik.


Fortsetzung folgt (das passt ja auch gut!).

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