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Sonntag, 28. Juni 2015

Victoria – Ein atemberaubender Film in Echtzeit


Als ich aus diesem Film herauskam, war ich total erschöpft. Warum? Weil dieser Film sein hektisches Geschehen dem Zuschauer so nahe bringt wie kein anderer. Wenn der Regisseur (Sebastian Schipper) nicht immer wieder ruhigere Phasen eingebaut hätte, in denen die Tonspur nur auf Musik geschaltet wird, würde man am Ende hyperventilieren wie die völlig durchgeknallten vier Berliner Jungs und die junge Spanierin, die uns hier im nächtlichen Berlin eine verrückte Story vorspielen, die bei aller Rappeligkeit dennoch eine wunderbare Authentizität vermittelt.

Das liegt vor allem an der vom norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen durch die Berliner Nacht getragenen Handkamera. Das Unglaubliche aber Wahre ist, dass dieser Film in einer einzigen Kameraeinstellung gedreht ist, die uns zwei Stunden und zwanzig Minuten lang wacklig und enervierend von Schauplatz zu Schauplatz führt, inklusive heftigster Actionszenen.

Ich hatte ja vorher die überschwänglichen Kritiken gelesen, in der „Zeit“, in der „Berliner Zeitung“ und andere. Als ich dann drin saß, im schönen Berliner „Delphi Filmpalast“, dachte ich nach zwanzig Minuten naja, was wird’s werden, aber in den restlichen zwei Stunden ist mir das Denken vergangen und ich habe – was mir nur in ganz wenigen Filmen geschehen ist – erlebt, wirklich erlebt, was Kino ist und was Kino kann.


„Victoria“ hat beim Deutschen Filmpreis 2015 in fast allen Kategorien den ersten Preis erhalten, völlig zu Recht, und er hat noch mehr und noch größere Preise verdient.

Mittwoch, 24. Juni 2015

Englisches Gedöns

Gedöns

"Irgendwas ist faszinierend an dem janzen englischen Jedöns."

Eine Berlinerin zum Besuch der britischen Königin


igittigitt – ode an ernst jandl


igittigitt - ode an ernst jandl

von pitir grieniwild
                                                    mit dank an lili
ittis mips
ittis mips tritzt
itti: firt mips firt
ittis mips hipst firt
itti: sisi
itti hilt kiks
itti hilt ibst
itti hircht
itti: mips mips

itti hifft
ittis mips klipft
itti: kimm mips kimm
ittis mips kimmt
ittis mips kitzt
itti: igittigitt



Nach: "ottos mops", Ernst Jandl, der künstliche baum. Luchterhand, Neuwied 1970, S. 58


Freitag, 19. Juni 2015

Aus einem Elefanten eine Mücke machen – Anne Weber und Walter Benjamin

Ein Buch mit einem offenen Anfang: die Erzählerin sagt es selbst. In den ersten zwanzig Seiten sitzt sie in ihrem Zimmer im Haus des Literarischen Colloquiums am Wannsee in Berlin, wo Anne Weber 2001 zu Gast war, und versucht zu schreiben, „ein Buch (...), in dem die Sprache umgestülpt wäre wie ein Strumpf. Die Welt nach links zu drehen, das wäre eine Beschäftigung, an der ich dauerhaft Freude haben könnte“ (Besuch bei Zerberus, 11).

Schreibblockaden, Schlaflosigkeit, Tränen stellen sich ein, aber auch Worte, ja Wortketten. „In der Nacht begegnet mir dann eine Spinne, (...) die sich aufbläht und die Größe eines Elefanten annimmt, eines Elefanten mit fadengleichen, wie mit hauchdünnen Trommelstäben auf der gespannten Haut meines Leibes herumwirbelnden Beinchen“ (Zerberus, 22). Wer ist dieser Elefant?

Neben dem offenen Anfang gibt es auch ein offenes Ende und dazwischen ein Dazwischen, von dem das Buch seinen Titel hat: „Besuch bei Zerberus“ (Frankfurt am Main 2004). Zerberus, das ist der Wächter der Hölle, und Cerbère ist eine französische Stadt an der Grenze zu Spanien, in der „der Höllenhund etwas vergraben hat, was nur ich ans Tageslicht befördern kann“. So entspinnt sich dann doch noch eine Geschichte.

Die Erzählerin fährt nach Cerbère, der Stadt, die für Walter Benjamin die letzte Station in Frankreich war, bevor er sich in Portbou hinter der Grenze das Leben nahm. Ein Pilgerort seitdem für Benjaminverehrer aus aller Welt. Die Erzählerin sitzt in einem Café, „mir gegenüber sitzen zwei Benjamin-Pilger auf der Durchreise und schauen mich durch ihre runden Brillen kurzsichtig an“ (Zerberus, 63).

Warum ist Anne Weber dort? Auch sie hat etwas mit Benjamin, denn sie hat eine „Benjamin-Familie“ (Zerberus, 69). Der Urgroßvater hatte mit Walter Benjamin auf freundschaftlichem Fuße verkehrt, seitdem gilt dieser in der hochbildungsbürgerlichen Familie als intellektueller Heiliger. Nur hatte Anne Weber zu dieser Familie keinen Zugang, da sie ein uneheliches Kind war.

“Der Vater ist mit Benjamin auf du und du, für den Vater ist Benjamin ein Freund der Familie. (…) Für das Kind gehört der Vater zu einer fremden, der Benjamin-Familie. Die Benjamin-Familie lebt auf der anderen Seite des Berges und der Grenze, das Kind wohnt mit der Mutter am Ende der Welt. Drüben in der Benjamin-Familie sprechen sie eine Sprache, die das Kind nie gelernt hat und die man auch nicht erlernen kann. (…)
Die Brille Benjamins setzt sich auf des Vaters edle Nase (…), zusammen schauen sie das Kind wohlwollend und verständnislos durch ihre dicke Brille an” (Zerberus, 69f.).

Die Unzugänglichkeit der Vater-Familie hat sich für die erwachsene Anne Weber mit dem Benjamin-Diskurs zu einer unentwirrbaren Einheit entwickelt.

Kurz gesagt: Anne Weber hat einen Benjamin-Komplex.

Wie geht sie damit um? Eigentlich hat sie dafür keine Lösung, denn am Ende dieses schmalen hochreflektierten Büchleins ist alles offen. Wenn ich es schon gekannt hätte, als Anne Weber sich vor zwei Wochen in der Akademie der Künste öffentlich zwischen zwei Benjaminversteher gesetzt hat, wäre mir manches klarer gewesen. Sie weicht den Benjaministen nicht aus, aber sie kann ihnen in offener Rede nichts entgegensetzen. Das wird sich nie ändern. Nur in ihrem Schreiben hat sie Instrumente entwickelt, die ihr helfen, damit umzugehen. Sie arbeitet mit Umkehrungen. Das habe ich bei meiner Besprechung ihres Buches “Ahnen” bereits festgestellt. Im “Besuch bei Zerberus” findet sich eine ebenso humorvolle wie frappierende Umkehrung eines benjaminischen Denkbildes:

Eine Mücke hatte sich nachts im Hotelzimmer in Cerbère auf den Arm der Erzählerin gesetzt:

„Am frühen Morgen stellt sich das Insekt auf die Hinterbeine, breitet die Flügel aus und gibt sich als Benjamins Engel der Geschichte aus, allerdings ohne die Lockenwickler, die Paul Klee ihm aufgedreht hatte, und ohne dessen große Ohren. Die unzähligen Facetten seiner Insektenaugen hat es auf mich gerichtet, die ich als hoher und immer höher werdender Trümmerberg in der Rolle der Geschichte vor ihm erscheine, und es spricht zu mir von der Hoffnung, von der unendlich viel vorhanden ist, nur nicht für uns. Aus der fernsten Vergangenheit weht ein starker Wind und treibt uns vor sich her; die Zukunft ist ein leerer Raum, dem wir den Rücken zukehren. Auch die Mücke ist schon sehr lange aus dem Paradies vertrieben.”

Anne Weber, Besuch bei Zerberus, Frankfurt am Main 2004, S. 62


Mit diesem schönen Remake der berühmtesten von Walter Benjamins Thesen zur Geschichte und darin Anne Weber als Trümmerfrau der Geschichte möchte ich hier schließen.

Mittwoch, 17. Juni 2015

Andrzej Stasiuks „Dojczland“

Anne Weber traf in Andrej Stasiuks Büchlein über Deutschland und die Deutschen auf „die hasserfülltesten und zugleich dümmsten Sätze, die ich je über mich und meine Landsleute [...] gelesen habe“ (Ahnen, S. 83). Für mich war das Anlass genug, mir „Dojczland“ (Frankfurt am Main 2008) einmal anzusehen (siehe auch meinen vorigen Beitrag).

Stasiuk gründet seine Wahrnehmungen auf 117 Lesereisen in deutsche Städte, die mit jeweils einer Übernachtung und einem schönen Honorar verbunden waren. Wahrscheinlich würde jeder, der das tut, in Hass- und Wahnvorstellungen und dem Alhohol verfallen, so wie es seinem Ich-Erzähler ja auch geschieht.

Was am Anfang noch originell ist, wird bald langweilig, da die einmal gewählte Erzählhaltung nie durchbrochen wird. Der Erzähler verharrt im Trauma und beim Jim Beam und er lernt nichts dazu, weder über sich, noch über die Deutschen.  Ich hatte Mühe, die 93 Seiten zu Ende zu lesen. Dieses Ende, wer errät es, führt uns nach Auschwitz, aber nur im Fernsehen und anlässlich des Besuchs des deutschen Papstes.


War es Zufall, dass ich gestern, auf unserer kleinen Reise nach Frankfurt (Oder) ein paar Augenblicke lang mit einem Bein in Polen stand? Vor mir lag die Bibliothek von Słubice, und ich dachte darüber nach, welche polnischen Gegenwartsautoren ich eigentlich kenne. Mir fiel nur Stasiuk ein, dessen Romane ich aber nicht gelesen habe und der die Brücke, auf der ich stand und auf der reger Verkehr in beiden Richtungen herrschte, zunächst einmal abgebrochen hat. Ich kehrte um und ging auf die deutsche Seite zurück. Ich hatte es ja auch nicht anders geplant.