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Freitag, 23. August 2013

Wolfgang Koeppens Romanfragment Die Jawang-Gesellschaft


Vor ca. 10 Jahren habe ich diesen Aufsatz geschrieben. Er stammt aus meiner Reihe zu deutsch-niederländischen Kulturbegegnungen. Wolfgang Koeppen war 1934-38 in einem (freiwilligen) Exil in den Niederlanden.

Schattenspiel

Wolfgang Koeppens Romanfragment Die Jawang-Gesellschaft 

In einer “Periode der Verzweiflung” entstand in den Jahren 1937/38 während Wolfgang Koeppens freiwilligem Exil in den Niederlanden der Plan zu dem Roman Die Jawang-Gesellschaft. Jahrzehntelang ist in der Literaturkritik über dieses Projekt gerätselt und spekuliert worden. Der verschmitzt-versponnene Autor, dem nach dem Erfolg seiner drei Romane der fünfziger Jahre eine Schreibhemmung nachgesagt wurde, schien immer für eine Überraschung gut. Und wenn es denn nicht ein neuer Roman sein sollte, so vermutete man in seinen Schubladen wunderbares Verstecktes. Die Hoffnungen bestätigten sich 1992, als ein Roman von ihm neu verlegt wurde, der 1948 unter anderem Namen erschienen war.
44 Jahre lang hatte der Autor über Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch geschwiegen. Worüber noch? Nach Koeppens Tod im Jahre 1996 hat Alfred Estermann eine erste Sichtung des Nachlasses vorgenommen und die vorgefundenen Prosastücke veröffentlicht.[1] Das umfangreichste und interessanteste Manuskript sind die drei Kapitel des Jawang-Projektes. Koeppen hat mit knappen und teils widersprüchlichen Äußerungen zu dem langjährigen Verwirrspiel über diesen Roman beigetragen, das Estermann im Nachwort zur gesonderten Ausgabe des Textes[2] dokumentiert.
Aus den erhalten gebliebenen Kapiteln ist das Gesamtkonzept des Romans nicht abzuleiten, nicht einmal der Plot wird deutlich. Der Roman bricht ab, bevor überhaupt die im Titel genannte “Jawang-Gesellschaft”, eine indonesische Schattenspielgruppe, in irgendeiner Form eingeführt oder auch nur erwähnt wird. Das Puppentheater taucht jedoch im Motto auf, einem Zitat aus Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater: “Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, dass sie antigrav sind. Von der Trägheit der Materie, dieser dem Tanze entgegenstrebendsten aller Eigenschaften, wissen sie nichts: weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist als jene, die sie an die Erde fesselt.”



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Der erste Teil des Jawang-Fragments handelt von Carel Johan Tobias Pieter Blois, dem letzten Sproß eines alten niederländischen Adelsgeschlechts, das sich bis in die große Zeit der Niederlande, ins 16. und 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Carel ist zu Beginn des Romans 19 Jahre alt. Er ist der Erbe der kleinen Nordseeinsel mit dem Herrenhaus, in dem er aufgewachsen ist. Seine Eltern sind vor Jahren bei einem Badeunfall ertrunken. Der junge Freiherr tritt nach dem Abitur in die Militärakademie in Breda ein. Er schließt Freundschaft mit dem Kaufmannssohn Moerland, einem wilden Trinker und Anziehungspunkt der Mädchen. Nach dem Offiziersexamen fahren sie zusammen mit der Freundin nach Monte Carlo. Moerland hat Schulden und will beim Spiel sein Glück machen. Er verliert jedoch eine für ihn unerschwingliche Summe. Carel bürgt für den Freund und rettet so dessen Existenz, in vollem Bewußtsein, damit seinen eigenen, jahrhundertealten Familienbesitz und den Offiziersrang aufgeben zu müssen.
Diese Erzählung wird im dritten Kapitel wieder aufgenommen: Carel kommt als einfacher Soldat der niederländischen Kolonialtruppe mit dem Schiff auf Java an. Ausführlich und reflektierend geschildert werden seine ersten Eindrücke von der tropisch-exotischen Stadt Surabaja und die Kontraste zwischen der niederländischen Kolonialgesellschaft und der einheimischen Bevölkerung. Die neuangekommenen Soldaten treffen sich in einer Hafenkneipe. Carel, dem die Trinkgelage fremd sind, lässt sich von einem Chinesen ein fünfzehnjähriges Mädchen vermitteln. Er rührt diese jedoch nicht an, trinkt nur Tee mit ihr. Er geht zurück in die Kaserne, versucht zu schlafen, voller Gedanken, voller Eindrücke. Im Traum sieht er sich in einem roten Wald voll blauer Schattengestalten. Am nächsten Morgen wird die Truppe geimpft, um nach einigen Tagen mit der Eisenbahn ins Innere der Insel zu fahren. Hier bricht der Text mitten im Satz ab.
Das zwischengeschobene zweite Kapitel ist aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben. Es handelt Jahre später auf der kleinen Nordseeinsel, wo Carel aufgewachsen ist. Der Ich-Erzähler spielt während eines schweren Sturms in der Dorfkirche Orgel. Im Pfarrhaus begegnet er dem Freiherrn, der offenbar jahrelang am niederländischen Kolonialkrieg teilgenommen hat und davon gezeichnet ist. Das Kapitel ist charakterisiert durch intensive philosophisch-existentielle Gespräche zwischen dem Pfarrer, dem Freiherrn und dem Ich-Erzähler.

Jörg Döring hat in seiner akribischen Arbeit über Leben und Werk Koeppens in den Jahren 1933-1948[3] ein ausführliches Kapitel den Jahren in den Niederlanden gewidmet. Viele Details, die in den Nachlaßtexten angesprochen werden, wurden von Döring nachrecherchiert. Dagegen geht er auf eine Reihe wichtiger Aspekte des Jahwang-Fragments überhaupt nicht ein (so zum Beispiel auf den Titel).
Ich möchte im folgenden den Versuch wagen, mit einer Analyse der Entstehungsbedingungen des Fragments und parallel dazu entstandener Texte zu einer Einordnung des Jawang-Romans innerhalb des Oevres von Koeppen zu kommen. Mein Eindruck ist, dass das Jawang-Projekt als zeitdiagnostische und poetologische Synthese und Summe seines kreativen Prozesses geplant war. Deutlich ist, dass Koeppens Aufenthalt in den Niederlanden in einem direkten Kontext hierzu steht.
Was eigentlich hatte ihn dazu bewogen, im November 1934 Berlin zu verlassen und nach Den Haag zu gehen? Gerade war sein erster Roman, Eine unglückliche Liebe, erschienen, der ihm lobende Kritik einbrachte und ihn in seiner Existenz als freier Schriftsteller bestärken mußte. Koeppen war beinahe mittellos. Er wohnte in einem möblierten Zimmer in der Bleibtreustrasse. Zugleich verkehrte und wohnte er in sehr reichen Häusern: in der Grunewaldvilla des Anwalts Michaelis und im Hause des Arztes Kuttner am Grunewaldsee. Das Romanische Café war seine zweite Heimat.
Wolfgang Koeppen hatte eine lebenslange Vorliebe für sehr junge, zierlich-androgyne Frauen. Ihr Urbild ist die Sybille aus Eine unglückliche Liebe. Die Schauspielerin Sybille Schloß gehörte zum Ensemble von Erika Manns Exilkabarett “Die Pfeffermühle”. Ihr,  deren Spezialität auf der Bühne (laut Programm 1933) “kleine Jungen und Mädel in Uniform” waren, reiste er ins Züricher Exil hinterher. Sie verweigerte sich; und er suchte in den folgenden Jahren nur flüchtige Verhältnisse, denen er sich konsequent in dem Moment entzog, wo wahre Liebe ins Spiel zu kommen drohte. So erging es der Niederländerin Corine, die er in Berlin auf der Strasse angesprochen hatte und mit der zu schlafen er sich später in Amsterdam weigerte, weil sie ein “guter Mensch” sei; und so hat er es auch mit der 18jährigen Frau eines SS-Offiziers gehalten, die mit zwei Hunden am Romanischen Café entlangflaniert war, “ein Kind wie von Renoir gemalt. Riesige Sommerhüte, flatterndes Kleid. Das junge Gesicht so geschminkt wie für die Blumen des Bösen.”
Im Laufe des Jahres 1934 war die Situation in Berlin prekärer geworden. Die braunen Horden verstärkten ihren Griff auf die jüdische Bevölkerung und die verhaßte Berliner Bohème. Am 30. Juni folgte die Krise des sogenannten Röhmputsches, Hitlers Schlag gegen die SA-Führung. “Die SS-Führer-Frau saß zur gewohnten Stunde unter ihrem großen Renoir-Hut im Café. Der Schriftsteller fragte sie, ist dein Mann schon erschossen. Sie sagte, nein, er erschießt.” Koeppens freundschaftlicher Gönner, der jüdische Anwalt Karl Michaelis, beschloss zu emigrieren. Auch Koeppen erwog, Deutschland zu verlassen, darin bestärkt durch Komplikationen in seinem Verhältnis zu der Frau des SS-Offiziers: sie “meinte auf einmal, den Schriftsteller zu lieben”. Im November 1934 folgte er der Einladung der Familie Michaelis nach Den Haag. “Er war der Heimat seiner Väter nicht mehr gewachsen gewesen”, schreibt er über sich, und “Ich war ja nicht verfolgt oder bedroht, ich ging nach Holland, weil mich das alles in Hitlerdeutschland ankotzte.”
In der Hoenstraat in Den Haag bewohnte das Ehepaar Michaelis eines der dunkelroten Ziegelhäuser “in einer geraden Reihe, die mir klein und irgendwie ärmlich vorkamen, wie eine Werbung für holländische Sauberkeit und bürgerliche Bravheit”. Stark drängte sich Koeppen der Kontrast auf, wie das großbürgerliche Berliner Paar, das aus den hohen, weiten Zimmern der Grunewaldvilla kam, sich in die kleine, gardinenlose holländische Welt eingefügt hatte. Ihre Bücher hatten sie mitgenommen. “Der deutsche Geist drängte sich, aus größerem Raum vertrieben, eng und bis zur Zimmerdecke an die Wände gepreßt.”
Vier Jahre wird er in den Niederlanden verbringen, vier Jahre in wachsender Aussichts- und Mittellosigkeit. Was am Anfang wie ein etwas abenteuerlicher, vorübergehender Aufenthalt in der abwechslungsreichen Szenerie der deutschen Emigranten in Den Haag und Amsterdam wirkte, “ein Besuch bei Freunden, Ferien, Hoffnung auf Veränderung, zu der man beitragen könnte”, wurde abgelöst von einer “Periode der Gefangenschaft”. Der niederländische Staat erschwerte nach anfänglicher Großzügigkeit angesichts des wachsenden Flüchtlingsstroms aus Deutschland die Aufenthaltsbedingungen. Zwischen 1933 und 1938 sind rund 25.000, zum großen Teil jüdische Flüchtlinge in die Niederlande gekommen. Die Praxis des politischen Asyls wurde relativ liberal gehandhabt. Nach 1936 erhielten Flüchtlinge jedoch keine Arbeitserlaubnis mehr, und sie durften sich politisch nicht betätigen. Anfang 1938 wurden die Grenzen praktisch geschlossen. Die Polizei veranstaltete Straßenrazzien nach Deutschen. Jedem der nicht wenigstens 200 Gulden bei sich hatte, drohte die Ausweisung. Koeppen hatte keine 200 Gulden. Er lebte von dem “Taschengeld”, das Michaelis ihm zahlte.
Der erste Sommer allerdings war produktiv: Koeppens zweiter Roman, Die Mauer schwankt, entstand und konnte 1935 noch bei Cassirer in Berlin erscheinen. Auch dieses Buch ist übrigens lange verschollen gewesen. Koeppen besaß kein einziges Exemplar mehr und fand in den fünfziger Jahren zufällig eines auf dem Amsterdamer Flohmarkt. Aber erst 1982 war er bereit, es neu verlegen zu lassen. Im Vorwort äußert er sich zur Entstehungszeit des Romans. Die friedlichen, stillen Niederlande hatte er zunächst als wohltuenden Kontrast zum unruhigen und erschreckenden Deutschland empfunden. “Ich wohnte, weil es mir zu Hause nicht mehr gefallen hatte, in Den Haag, der Residenzstadt der niederländischen Königin. Vor dem Schloß wachte ein Spielzeugsoldat. Die Königin fuhr in einer Kutsche aus. Es waren vier Pferde vorgespannt. Das war wie im alten Märchen. Die Leute riefen: Es lebe die Königin! Das war friedlich.”
Das bürgerlich-konservative Den Haag mit seinen starren gesellschaftlichen Regeln paßte jedoch nicht zu Koeppens Lebensstil. Auch in der “Zeltgemeinschaft” bei Michaelis in der Hoenstraat, in die weitere Flüchtlinge aufgenommen wurden, gab es schon bald Reibungen, Konflikte und moralische Bedenken der Hausfrau. Koeppen suchte sich andere Wohnmöglichkeiten in Den Haag und im liberaleren Amsterdam. Dort verkehrte er im Café Americain am Leidseplein, dem Treffpunkt der deutschen Emigrantenszene. In Amsterdam hatte Fritz Landshoff 1933 den Querido-Verlag gegründet, bei dem die meisten bekannten deutschen Emigranten erschienen: Heinrich Mann, Ernst Toller, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Alfred Döblin, Erich Maria Remarque, Joseph Roth und viele andere.
Die “Pfeffermühle” reiste von ihrem Züricher Exil aus zu drei langen Gastspielen in die Niederlande, wo sie großen Erfolg bei Presse und Publikum hatte: Mai bis Juni 1934, März bis Mai 1935 und März bis Mai 1936. Der niederländische Kritiker Menno ter Braak, der auch Koeppens Romane wohlwollend besprochen hat, begleitete ihr Auftreten mit künstlerischer und politischer Sympathie. Er war einer der ersten in den Niederlanden gewesen, der eindringlich vor den Nationalsozialisten gewarnt hatte. Beim Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 nahm er sich das Leben.
Während der zweiten Tournee der “Pfeffermühle” sah Koeppen auch Sybille Schloß wieder, was ihn nochmals in die Abgründe der unglücklichen Liebe riß. Auch seine Kontakte zu Klaus und Erika Mann waren nicht sehr befriedigend verlaufen. In ihren Tagebüchern und Schriften kommt er nicht vor. Bei der "Pfeffermühle" und auch bei den anderen Exilgruppen gab es ein starkes Hierarchiegefälle. Man darf sich hier keine grossen Vorstellungen von Exilsolidarität machen. Koeppen fand keinen richtigen Anschluß. Immerhin durfte er einige Liedtexte für Sybille schreiben. Sybille heiratete dann aber einen homosexuellen Freund Koeppens (Thomas Michaelis, den Sohn seines Gönners). Bei der nächsten Tournee, 1936, war sie nicht mehr dabei. Zensurvorschriften der niederländischen Regierung, die den großen Nachbarn nicht verärgern wollte, leiteten im selben Jahr das Ende der “Pfeffermühle” ein. Der Versuch, als “Peppermill” in New York vor einem amerikanischen Publikum weiterzumachen, endete in einem Debakel.
In Scheveningen, dem mondänen Badevorort von Den Haag, ging Koeppen ins Café Sport, wo sich eine bunte Gesellschaft traf: junge Niederländer und Javaner aus reichen Elternhäusern. Niederländisch lernte er kaum in all den Jahren, denn die Bohème sprach englisch, deutsch, französisch. Koeppen befreundete sich mit Jan Apon, einem auf Java geborenen Kriminalschriftsteller. Von ihm und von anderen niederländischen und javanischen Intellektuellen, unter ihnen “ein javanischer Prinz, der die Holländer haßte”, erhielt er sein Bild der von ihrer Kolonialkultur durchwirkten Niederlande. Seine intensive Wahrnehmung führte in ihrer poetischen Umsetzung zu einigen der schönsten Texte, die in deutscher Sprache über die Niederlande geschrieben worden sind (Zum ersten Mal in Rotterdam, 1935; Im Spiegel der Grachten, 1958).

In einem der berühmtesten Prosastücke Koeppens, dem über vier Seiten sich erstreckenden kunstvoll verknäuelten zeitdiagnostisch-historiographischen Satzfaden Ein Kaffeehaus (1965), sind alle wesentlichen Motive enthalten, die auch den Rahmen der Jawang-Gesellschaft bestimmen: die Gefährdung durch eine große Gewalt (die nationalsozialistische Diktatur), die Vertreibung aus einer paradiesischen Gemeinschaft (dem Romanischen Café), deren Auflösung in Nichts, die Erfahrung des Verlusts und einer zukunftslosen, totalen Gegenwart in der ringsum verhaftet, getötet und zerstört wird, die Einsamkeit und die Gegenwart des Todes, die nur durch das Schreiben und die im Schreiben sich etablierende Gegenwelt (die Gegenwelt der Ästhetik, die Gegengewalt der Kritik) gemildert werden kann. Die Essenz der Negativität faßt Koeppen in ein Bild: An der Terrasse des Romanischen Cafés “schwebte” der Sohn eines Wunderrabbis vorbei. Dieser antigrave (siehe Kleist) “Seraph” sagte “ein jiddisches oder hebräisches Wort, ich habe es vergessen und nicht vergessen, es klang wie hävter, und es bedeutete Sand oder Wind oder Sand im Wind, und er und ich, wir sahen die Terrasse und das Kaffeehaus wegwehen, verschwinden mit seiner Geistesfracht, sich in Nichts auflösen, als sei es nie gewesen, und es marschierten die Standarten auf .”
Sand im Wind: Als Koeppen im November 1934 in Den Haag ankam, wurde er von Karl und Dora Michaelis auf dem Bahnsteig erwartet, eine Geste, die in Berlin nicht denkbar gewesen wäre. Sie kamen ihm kleiner vor, als er in Erinnerung hatte: “Es war als hielten sie sich aneinander fest, um nicht fortgeweht zu werden von einem Wind, der in diesem Augenblick für mich auf diesem Bahnhof in Den Haag gar nicht zu spüren war.” Doch der mit vergeblicher Hoffnung erfüllte Moment der Ankunft verging, und der unheilvolle Sturm, den auch Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen aus dem Paradies wehen lässt, erfaßte den einsamen Radfahrer Koeppen am Strand von Scheveningen. Sand im Wind: “Wie ein Havarist” erreichte er mit Mühe das Café Sport. In den Dünen ergriff ihn der Sand, übte einen ungeheuren Sog auf ihn aus: “Der Sand drang in ihn ein. […] Durch die Jacke, die Hose, in alle Haare, alle Poren, in das Blut drang der Sand der See, in seinen Mund rieselte er wie ein unsagbar wollüstiger Kuß und erstickte ihn” (Van Beuk).
Auch in der Jawang-Gesellschaft wird der Sand zum Bild des flüchtigen und gefährdeten Seins. Koeppen beschreibt das kleine Eiland, auf dem Carel zuhause ist und das er im nächsten Moment verloren haben wird. “Man glaubt, es sei grade nur für den Moment der Betrachtung in das Licht gehoben worden.” Koeppen hat in seiner niederländischen Zeit sein poetisches Repertoire zur Beschreibung von Vergänglichkeit, Bedrohung und Untergang erheblich erweitert. In einer der poetisch schönsten Passagen des Fragments erzählt er den Tod von Carels Eltern.
Carel verliert alles: Eltern, Haus, Heimat, Vermögen und gesellschaftliche Stellung. Seine Einsamkeit und Ausweglosigkeit faßt Koeppen im Bild des Schattens. Carel steht vor der untergehenden Sonne am Strand. Er “blickt über die See. Ein schmaler Schatten, behauptet er sich vor der Unendlichkeit, wie jemand der auf einem verlorenen Posten ausharrt.” Carel steht dort wie ein etruskischer homo ombra, ein dünner Schattenmann, allein am weiten Sandstrand. Mit dem Bild vom “verlorenen Posten” öffnet Koeppen ein Textfenster zum Abenteuerlichen Herz von Ernst Jünger. Das Buch war 1938 gerade in der aufsehenerregenden zweiten Fassung erschienen. Jünger benutzt darin das Bild des verlorenen Postens als historia in nuce, als gegenwartsdiagnostische Figur zur Erfassung der conditio humana in Zeiten großer, unvorhersehbar hereinbrechender Gefahr. Es mag vielen Koeppen-Verehrern nicht behagen, aber neben den Einflüssen Kafkas wird man auch eine Verwandtschaft zu Jüngers “Ästhetik des Schreckens” (Bohrer) akzeptieren müssen. Auch wenn der absolute Anti-Soldat Koeppen den zehn Jahre älteren aristokratischen Herrenreiter Jünger persönlich nicht mochte, liegen die Parallelen in der Zeitdiagnose, im anarchistischen Habitus und auch im Schreibstil auf der Hand.

Nun aber zum Schatten, denn damit wenden wir uns dem zentralen poetologischen Element der Jawang-Gesellschaft zu: Das Prinzip des indonesischen Wayang-Theaters (nicht: Jawang! Koeppen hat das Wort entweder in seiner Erinnerung verdreht oder sich eine spielerische Freiheit erlaubt) ist das des Schattenspiels. Ganz offenbar hat er sich hierüber viel erzählen lassen. Vielleicht hatte er in Den Haag oder Amsterdam auch die Gelegenheit, einer Vorführung beizuwohnen: Flache, aus Leder gefertigte, von unten her mit Stöcken bewegte Figuren werden hinter einer weißen beleuchteten Leinwand geführt. Das Publikum sitzt vor oder hinter der Leinwand, kann also entscheiden, ob es das Stück als Schattenspiel oder im direkten Anblick der bunt bemalten, zum Teil auch dreidimensionalen, aus Holz gefertigten Figuren betrachten will. Das Repertoire besteht aus traditionellen Epen, Legenden, Zauberdramen und aktuellen, profanen Stoffen. Eine Wayang-Vorstellung beginnt auf Java um 21 Uhr und endet erst am frühen Morgen. Die Aufführung wird von einem kleinen Orchester begleitet, dem Gamelan. Zu bestimmten Figuren, Ereignissen und Situationen gehören bestimmte Musikstücke, die zum Teil in onomatopoetischer Weise das Geschehen begleiten. Neben menschlichen Figuren gibt es auch abstrakte und symbolische Gestalten, die zum Beispiel eine Armee repräsentieren oder den Baum des Lebens. Die Leinwand ist weiß. Nur eine einzige pyramidenförmige Figur deutet die Szenerie an: sie kann einen Berg, einen Palast, einen Wald oder einen Fluß darstellen.
Der Schattenspieler, der dalang, führt – manchmal unterstützt von ein bis zwei Assistenten -die Figuren und spricht und singt in verschiedenen Stimmlagen deren Texte. Sein Beruf ist jahrhundertelang vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden; es gibt aber auch Wayang-Schulen. Jedenfalls bedarf es einer langen Ausbildung, um das Repertoire und die Feinheiten des Spiels, die gerade in gekonnten Improvisationen und der Einbringung aktueller Bezüge liegen, zu erlernen. Wayang ist eine Reflexion des Universum, der Gesellschaft, der Existenz. Die Figuren haben einen Grundcharakter, aber sie sind subtil, tragen Gutes und Schlechtes in sich, haben Schwächen, die der dalang spielerisch und ironisch herausarbeiten kann. Er ist also viel mehr als ein Schattenspieler; er begleitet die Figuren, führt sie zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod, eröffnet mythische und reale Bezüge.
Dies alles muß Koeppen außerordentlich gefallen haben. Er begann jedenfalls, das Schattenspiel-Motiv in seine Texte einzubauen. In der Prosaskizze Am weiten Meer sitzt der Ich-Erzähler im Café Sport an der Seepromenade in Scheveningen. Dort beobachtet er die Einheimischen und die Fremden. “Die Promenierenden wurden von dem letzten Glühen des Tages wie die Figuren eines Schattenspiels beleuchtet, und die leichten Sommerkleider der Frauen waren wie aufgelöst in diesem Licht.” Ein anderer, autobiographisch erzählender Schlüsseltext aus dem Nachlaß ist Zwart Water. Auch hier die Situation im Café Sport, bei Sonnenuntergang: “man saß an kleinen Marmortischen wie in Berlin im Romanischen Café […], eine Menge ging vorüber, Mädchen in Scharen, wenn die Sonne noch brannte, waren ihre Kleider durchsichtig zum Wasser, sie gingen als Fleisch und Skelett, ich dachte an die Schaufensterpuppen im Kaufhaus des Westens in der Tauentzienstraße”.
Damit wird die doppelte, ästhetische und epistemologische Qualität deutlich, die das Schattenspiel für Koeppen interessant gemacht hat. In einem Denkbild von Benjaminscher Qualität gelingt es ihm, die Wirklichkeit seiner Gegenwart zu durchleuchten. Er ergreift in dem Bild des Schattenspiels die totale Gegenwart, zu der er durch die Naziherrschaft verdammt ist, eine auf den Punkt gebrachte Gegenwart, ein hoffnungsloses Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft. All die Dichter und Philosophen, die Maler und Schauspieler, die Anarchisten und Träumer aus dem Romanischen Café, die “sich im Gespräch erhitzten und glaubten, Zukunft zu haben oder wenigstens Dauer der Gegenwart […] zerstreuten sich in alle Welt oder wurden gefangen oder wurden getötet oder brachten sich um oder duckten sich.” Überleben war nur im “geheimen Vaterland” möglich: in der Literatur: “ich werde schreiben, und ich wußte, dass ich starb, auch wenn ich nicht gehenkt würde oder erschlagen oder verbrannt oder erschossen.”
Die radikal zurückgenommene Existenzform hat jedoch nicht ihre aufklärerische Ambition verloren. Das Schattenspiel ist immer auch ein Lichtspiel. Koeppens Röntgenblick durchleuchtet die Gegenwart mit schwarzem Licht: “Die Dunkelheit sollte ihnen klar werden” (Morgenrot). Die Lebenden erscheinen als Skelette. Der durchleuchtende Blick mit seiner plötzlichen Aufklärung der Dunkelheit hat schockartigen Erkenntnischarakter. Neben der Ähnlichkeit zu Jüngers “stereoskopischem Blick” aus dem Abenteuerlichen Herz fällt hier die Nähe zu Walter Benjamins Analyse des Films in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) auf: er sieht ihn dort als “die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform”.

Zurück zum Roman und seiner Hauptfigur, dem niederländischen Freiherrn, der im zweiten Kapitel mit der Charakterisierung als “Erwählter” eine fast mystische Überhöhung erfährt. Der Ich-Erzähler fühlt sich beim ersten Anblick von Carel Blois an die Kolonialveteranen erinnert, die er in Den Haag bei einem Umzug zu Ehren der Königin gesehen hatte: “Und dann waren die Männer von Atjeh den Wagen gefolgt. Man vergebe es mir: erst hatte ich sie für Feuerwehrleute gehalten, und dann für Konstabler, die, im Dienst beschädigt, ein wenig klapprig auf den Beinen noch einmal mitmarschieren durften. Dann aber sah ich sie! Sah die Gesichter! Sah sie unter den Helmen, die so an Feuerwehrhauben und altmodische Helme pensionierter Polizisten erinnert hatten, sah die Gesichter, und in den Gesichtern war die Legende von Atjeh! Das waren die Männer, die im Wald gelebt hatten, die mit dem Messer aus dem Busch geschlichen waren, die den grausamen und harten Krieg der Kolonialgeschichte geführt hatten, da waren Listen und Geheimnisse, da waren die Fieber und ihre Verzückungen, da waren unbekannte Tränke und das Gift von fremden Wesen, von Schlangen, Kräutern, Säften, Pfeilen und dem Biß der Insekten unter der gelben Haut und im seltsamen Feuer der Augen. Es waren die Tropen des weißen Mannes, die da vorübermarschierten, die Angst und die Überwindung der Angst […], und der Triumph der Gesittung über diese Fremde; ein Triumph, der zweien und dreien am Ende so fragwürdig schien - . Das war in ihrem Blick zu lesen; und es war sein Blick – so mußte er aussehen. Genau so.”
Der Atjehkrieg war ein dreißigjähriger Kolonialkrieg (1873-1904) der Niederländer in der aufständischen Provinz Atjeh auf Sumatra. Manche Historiker sprechen auch von einem achtzigjährigen Krieg und lassen ihn bis zum Einmarsch der Japaner 1942 andauern, da Atjeh nie ganz zur Ruhe gekommen ist. (Noch heute gibt es in der Region eine Guerillabewegung “Freies Atjeh”.) Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, der mehr als eine Viertelmillion Menschenleben gekostet hat, von 1898 bis 1904, als die Truppen des niederländischen Generals van Heutsz die Aufstände blutig niederschlugen.
Die niederländische Kolonialherrschaft war nicht anders als die anderer Kolonialmächte: mit relativ wenig Personal wußte man das gigantische Gebiet Niederländisch-Indiens, das eine ungleich größere Bevölkerung als die europäischen Niederlande hatte, zu beherrschen. Dies konnte nur im Zusammenwirken mit den einheimischen Machtstrukturen funktionieren und erforderte auch ein entsprechendes Wissen über die sozialen und kulturellen Verhältnisse. Seit dem 17. Jahrhundert gehörten “indische” Erfahrungen zur Biographie der niederländischen Militär- und Verwaltungseliten und wurden damit zum Bestandteil niederländischer Kultur und Identität. Der Historiker Johan Huizinga hat dieses Anderssein der Niederlande einmal auf einer Vortragsreise (1933) den Deutschen zu erklären versucht: „Holland, so kann es heißen, ist ein kleines Land an der Nord­see, mit etwa acht Millio­nen Einwohnern. Das Königreich der Niederlande - kann ich aber auch sagen - ist ein kleiner europäischer Staat und zu gleicher Zeit einer der zirkumpa­zi­fischen Staaten, mit über 60 Millio­nen Einwohnern. Auch mit dieser letzten Beschaffenheit hängt die Art seiner Mittler­stellung zusammen. Japan, die Vereinigten Staaten, Au­stralien, Britisch- und Französisch-Hinterindien, schließ­lich auch Vene­zuela, sind unsere Nach­barn, ebenso gut wie Deutschland und Bel­gien. Das muß man immer wieder beden­ken, wenn man von unserer Situati­on in der heutigen Welt spricht.“[4]
Koeppen konfrontiert seine Hauptfigur, einen sensiblen, europäisch gebildeten Intellektuellen, mit der harten Realität der Kolonialherrschaft. Vom letzteren Aspekt erfahren wir aus dem vorliegenden Text nur indirekt; das Bild jedoch, das der niederländische Freiherr von der fremden Welt hat, in die er eintritt, ist bestimmt vom Exotismus der europäischen Moderne des 19. Jahrhunderts: Rimbaud, Baudelaire und Gauguin. Ihre Gedichte und Gemälde führt Carel sich vor Augen, zwischen Wachheit und Traum, um seine Wahrnehmung der neuen Welt und ihrer Bewohner zu steigern. Einmal verlangt er sogar nach Opium. Sein Weg, der ihm den „Triumph der Gesittung über diese Fremde“ hat fragwürdig werden lassen, bleibt im Unerzählten verborgen.
Kritische Beurteilungen der eigenen Kolonialherrschaft sind auch heute noch in den Niederlanden nicht populär. Die Fragwürdigkeit des Triumphes über die Fremde ist gleichwohl ein häufig reflektiertes Kulturthema. Das berühmteste Beispiel ist der Roman Max Havelaar von Multatuli (1860), der zum Schulkanon der niederländischen Literatur gehört. Aus ihm könnte Koeppen auch geschöpft haben. Um die Jahrhundertwende wurde das Konzept der sogenannten “ethischen Politik” entwickelt, deren ideales Ziel die Selbstverwaltung der Kolonien war. Angesichts der aufkommenden indonesischen Nationalbewegung ab 1908 und der anhaltenden Unruhe in Atjeh kam es allerdings zu keiner größeren Liberalisierung des Herrschaftssystems.
In Koeppens Gegenwart von 1937/38 war von einem Ende der Kolonialherrschaft noch nichts zu spüren. Dieses wurde erst mit der Besetzung der Inseln durch japanische Truppen 1942 eingeleitet. 1945 kehrten die Niederländer zurück. Die Unabhängigkeit des Inselreiches, von Sukarno, der jahrzehntelang in niederländischen Gefängnissen gesessen hatte, im selben Jahr verkündet, wurde mit brutalen Militäraktionen aufgehalten. Erst 1950 übertrug die niederländische Königin die Macht an den neuen Staat Indonesien.
Die Figur des Freiherrn Blois ist also ein typischer Vertreter der niederländischen Elite seiner Zeit. Wahrscheinlich hatte Koeppen ein reales Vorbild vor Augen. An diesem Punkt müssen wir uns einem überraschenden Aspekt des Fragments zuwenden. Beim Manuskript handelt es sich um einen Schreibmaschinendurchschlag aus 112 durchlaufend paginierten Seiten. Die Handlung des ersten und dritten Kapitels ist zwar nicht eindeutig datierbar, aber der selbstverständliche Umgang mit Taxis, amerikanischen Autos und Lastautos sowie der “letzte Blues”, der aus dem Kneipenradio ertönt, weist auf die zwanziger, eher noch die dreißiger Jahre, also Koeppens damalige Gegenwart. Das zweite Kapitel spielt aber dreißig bis vierzig Jahre später: der Inselpfarrer, ein Greis, blickt auf sein Leben zurück und auf die Zeit, da der Freiherr noch Herr der Insel und er selbst in jungen Ehejahren war. Seine Söhne sind nun erwachsene Männer. Blois ist offenbar lange Jahre fort gewesen. Auch der Ich-Erzähler, der Züge von Koeppen trägt, scheint nicht mehr der Jüngste: sein Rücken ist ein wenig krumm. Er ist mit dem Flugzeug von Amsterdam nach Texel gekommen, offenbar auf der Flucht vor den Erwartungen der Verlage und Feuilletons. Seine Erinnerung an den Umzug der Atjeh-Veteranen datiert er mit der Formulierung "damals im Haag". All dies weist auf die sechziger, vielleicht sogar die siebziger Jahre. Ein Indiz dafür, dass dieses Kapitel wesentlich später entstanden ist? Dass Koeppen vielleicht noch lange nach dem Beginn des Projekts versucht hat, die Jawang-Gesellschaft zu Ende zu schreiben?

In Den Haag lebte in Koeppens Exilzeit ein Freiherr Bloys, der etwas jünger war als er und dessen Vater möglicherweise am Atjeh-Feldzug unter General van Heutsz teilgenommen hat. Er könnte als Student zur munteren Gesellschaft des Café Sport gehört haben.[5] Auch ein gesellschaftlicher Skandal, der eine Person aus Koeppens Scheveninger Gesellschaft zur Flucht nach Java getrieben hat, ist in dieser Zeit vorgekommen.
Die Insel, die jahrhundertelang dem Geschlecht Blois gehört haben soll, gibt es in dieser Form nicht. Bei Koeppen befinden sich ein Herrenhaus, eine Kirche mit Pfarrhaus und einige kleine Bauerngehöfte auf ihr, und sie müßte in unmittelbarer Nähe der wesentlich größeren Insel Texel liegen. Südwestlich von Texel liegt eine ausgedehnte Sandbank, Noorderhaaks, die niemals bewohnt gewesen ist. Nordwestlich von Texel hat es einmal eine kleine Insel gegeben, Buitengrind, auf der ein römischer Feldherr seine Burg gebaut haben soll. Aus dem 16. Jahrhundert gibt es Berichte von Gebäuderesten auf dieser Insel. Und natürlich gibt es in solchen Fällen Mythen und Legenden. So formt sich ein Bild von Koeppens Schreiben: “Aus diesem allem setzte sich etwas zusammen.”
Die Biographie des Ich-Erzählers ist nur aus äußerst sparsamen Hinweisen zu erschließen. Er ist ein Deutscher, der in seiner Jugend den Beginn des 1. Weltkriegs in der Feuerlinie der Ostfront und die Novemberrevolution von 1918 erlebt hat: “Ich habe bei Unruhen hinter einer Mauerecke gestanden, gegen die die Schüsse schlugen. Ich habe als Kind Bomben fallen hören, und ich habe die zerrissenen Toten gesehen.” Dies entspricht Koeppens eigenen Erinnerungen an die Besetzung und Zerstörung der masurischen Stadt Ortelsburg durch russische Truppen in den ersten Kriegswochen. Und es gibt weitere Details, die zu Koeppens Biographie passen.
Viel stärker als die beiden anderen hat das zweite Kapitel den Charakter einer Choreographie, einer existenzphilosophischen Komposition aus Bildern, Musik und Gedanken. In diesem Sinne ähnelt es mehr den berühmt gewordenen Nachkriegsromanen Koeppens, als den beiden vorangegangenen aus den dreißiger Jahren. Koeppens Poetologie ist hier bereits voll entwickelt. Die Technik des “inneren Dialogs”, der Aufspaltung in zwei literarische Figuren, wendet er in ausgeprägter Form erst in Tod in Rom (1954) an. Eine theoretische Reflexion hierüber ist 1972, zusammen mit anderen Fragmenten, unter dem Titel Vom Tisch veröffentlicht worden. Dass wir sie hier vorfinden, spricht ebenfalls für eine spätere Entstehung dieses Kapitels. Drei Figuren treten auf, in der Kirche und im Pfarrhaus auf der kleinen Nordseeinsel: Der Ich-Erzähler gibt den Rahmen von Ort, Zeit und Handlung und drückt im literarisch virtuos wiedergegebenen Orgelspiel aus. Der Freiherr, als Alter Ego des Ich-Erzählers, also auch Koeppens, zitiert auswendig eine lange Passage von Kierkegaard. Der alte Pfarrer verbindet und kommentiert das Gespräch.
Das erste Orgelspiel gestaltet das existentielle Problem: “Ich gab den Pfeifen einen großen Atem, so dass der ausströmende Ton mächtig im Raum sich erfüllte und das Schiff der Kirche wie erhoben war, weil der Klang noch weiter wollte, höher, über die Mauern hinaus, und dann ließ ich die Melodie meiner Vorstellung so hoffnungslos enden, so sich verlaufen, dass alle Kraft wie fliehend verhuschte, die Weihe und die Erhebung in sich zusammensank, absackte, schwer von den Wänden fiel, wie Regen zur Rinne rinnt, in seiner Reinheit beschmutzt; auf dem Steinboden starb die Dehnung des letzten Basses, kroch noch in die Rillen zwischen den Platten, sickerte durch zu den Gerippen der alten Toten dadrunter, und hatte nur noch die Kraft, nachzuziehen, zu Boden zu locken, zum Sterben. Man lag im Staub und die Zunge schmeckte ihn.”
Das Orgelspiel wird unterbrochen von einem gewaltigen Gewittersturm, der die hoch auf einer Düne stehende Kirche erschüttert und den Ich-Erzähler in namenlose Angst versetzt. Er flüchtet sich ins Pfarrhaus, wo er dem Freiherrn begegnet. Dessen langes Kierkegaard-Zitat bringt Koeppens großes Thema auch in die Jawang-Gesellschaft hinein: “Sich selbst um die Liebe betrügen ist das Furchtbarste, ist ein ewiger Verlust, für den es keinen Ersatz gibt, weder in der Zeit noch in der Ewigkeit.” Möglicherweise hat Koeppen tatsächlich erst spät Kierkegaard gelesen, so wie es auch im Roman für sein Alter-Ego angedeutet wird. Dabei muß ihn die Ähnlichkeit der Existenzproblematik bei Kierkegaard und ihrer Aufhebung im Schreiben im Vergleich zu seiner eigenen Situation sehr beeindruckt haben. Die Parallelität der unglücklichen Liebe - Sören Kierkegaard und die fünfzehnjährige Regine Olsen, Wolfgang Koeppen und die sechzehnjährige Sybille Schloß – und der ergreifenden Intensität der Umsetzung des Unglücks in Schreiben ist frappant. Auch hier ist festzustellen, dass sich der direkte Bezug auf Kierkegaard erst in den Nachkriegsromanen Koeppens findet.
Die Beschreibung des zweiten Orgelspiels wird zur musikalisch-literarischen Verbildlichung von Koeppens Überlebenskonzept: “Ich ließ den Menschen gegen den Jubel des Himmels auftreten. Die kleine Flöte des Hirten, aus der die Orgel, die mächtige Königin der Instrumente, sich entwickelt hatte, kam zu Gehör, und das Gespenstische und Berauschte, die halb göttliche, halb irdische Weise, den süßen, verführenden Sang der Syringe, der Flöte des Pan – ich versuchte, ihn zu zitieren. Ich endete sanft. Eine Arabeske, ein kleiner Scherz, wie ein Auftakt zu einem Menuett, waren der Schluß. Leicht ist es, die Anmut auf den Orgeln in den Lichtspielhäusern erklingen zu lassen; auf den Orgeln in der Kirche ist es schwer; sie widersetzen sich dem, und es war dann auch ein Klappern in der Melodie wie von den locker schwingenden Knochen tanzender Toter.”
Dass “Anmut” schwer zu erreichen ist, ist auch das Thema in Kleists Schrift Über das Marionettentheater. Die Utopie der Befreiung der Seele von der Trägheit der Materie faßte er im Bild der Marionette. Koeppen nimmt sich in Analogie dazu des Schattenspiels an, betont aber immer wieder dessen Nähe zum Totentanz. Der Tanz der Skelette in der totalen Gegenwart ist ein Bild sowohl für die Ästhetik des Widerstands als auch ein Zeichen für den real existierenden Widerstand der Ästhetik.
In Koeppens Geschichtsbild ist die Zeit kaputtgegangen. Der alte heile Traditions- und Fortschrittsrahmen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft funktioniert nicht mehr. Was bleibt, ist ewige Gegenwart in einer zeitlich-räumlichen, schattenhaften Zweidimensionalität. Zukunft will sich nicht mehr bilden, Vergangenheit bietet keine Hilfe zur Gegenwartsbewältigung. Leben, Erleben, Wiedererleben ist nur möglich in vorwärtsgewandter “Wiederholung”, einer zentralen Kategorie bei Kierkegaard: “Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt, wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts erinnert wird” (Kierkegaard, Die Wiederholung). Dies beinhaltet die radikale Entscheidung für eine “ästhetische Existenz”: die Tragik und gleichzeitig das Fundament des Autors Koeppen.
Zusammengenommen lässt sich aus der Choreographie des zweiten Kapitels auf die beabsichtigte Komposition des gesamten Romans schließen: das schicksalhafte Leben im Geschichtssturm des Nationalsozialismus, verwoben mit der privaten Katastrophe der unglücklichen Liebe zu Sybille, dargestellt hinter der exotischen Maske der niederländischen und javanischen Natur und Kultur mit einem neuentwickelten poetologischen Repertoire. Im nicht geschriebenen oder nicht erhaltenen Zentrum des Romans muß die Theatergruppe gestanden haben; das verspricht jedenfalls der Titel. Natürlich liegt die Vermutung nahe, bei Koeppens Schattenspiel-Gesellschaft könnte es sich um eine ins Exotische gewendete “Pfeffermühle” handeln, und das “sehr reizvolle Mädchen”, von dem Koeppen in diesem Zusammenhang gesprochen hat, wäre dann die ewige und immer-neue Sybille. Auch seine Mitteilung, dass in dem Roman “viel über die Zeit damals” gesagt wird, gewinnt in diesem Licht an Bedeutung. Das Manuskript war ihm nach seinen eigenen Aussagen zu brisant, um es mit nach Deutschland zu nehmen.  Als das Ehepaar Michaelis beschloss, in die USA auszuwandern, ging Koeppen im November 1938 nach Deutschland zurück. Die Niederlande waren für ihn zu einer “Falle” geworden; er brauchte den Kontakt zur deutschen Sprache. Irgendwie ist es ihm dann gelungen, bis zum Kriegsende seine Form der inneren Emigration durchzuhalten, ohne auch nur eine Minute lang Soldat in der Wehrmacht Adolf Hitlers gewesen zu sein.
Vorwärtsgewandte Wiederholung: 1945 lernte Koeppen die sechzehnjährige Tänzerin Marion Ulrich kennen, die er kurz darauf heiratete. Wenige Jahre später schrieb er drei großartige Romane - Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Tod in Rom (1954) - die wir uns aus der kritischen Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht wegdenken mögen. Der Radikalität der ästhetischen Existenz sind die jungen Frauen in seinem Leben und in seinen Romanen nicht gewachsen. Im Treibhaus ist es Keetenheuve, der 1945, mit 39 Jahren, die sechzehnjährige Elke kennenlernt. “Elke war die Chance gewesen, die Chance für ein anderes Leben”, aber Elke hält es nicht aus, geht an Keetenheuve und am Alkohol zugrunde. Die persönliche Tragik ist verwoben in die Zeitgeschichte. “Wie in Blüte wäre er gewesen wenn er mit den Nazis marschiert wäre denn das war der Aufbruch der verfluchte Irrbruch seiner Generation und jetzt war all sein Eifer der Verdammnis preisgegeben der Lächerlichkeit eines grau werdenden Jünglings er war geschlagen als er anfing.”
Und die Jawang-Gesellschaft? Da unsere rückwärtsgewandten Spekulationen im Nichts verlaufen, sollten wir nicht klagen über Verlorenes und Niegeschriebenes. Das Fragment ist das Ganze. Die Komposition der drei Kapitel ist bestimmt von einem “Klappern in der Melodie”. Die Jawang-Gesellschaft endet mit einem Absatz, in dem sich die Schönheit, der Schrecken und das Geheimnis des plötzlichen Abbruchs vollendet ausdrückt: “Nach einigen Tagen fuhren sie mit der kleinen Eisenbahn in den Wald, in das Innere der Insel hinein, aber zunächst zu den Bergen, in die Höhe, damit sie sich in einem milderen Klima an das tropische gewöhnen konnten. Vom Fenster ihres Zuges sahen sie die Reisfelder, die”



[1] Wolfgang Koeppen, Auf dem Phantasieross. Prosa aus dem Nachlaß, Frankfurt: Suhrkamp 2000
[2] Wolfgang Koeppen, Die Jawang-Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp 2001
[3] Jörg Döring, "…ich stellte mich unter, ich machte mich klein…". Wolfgang Koeppen 1933-1948, Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld 2001
[4] Johan Huizinga, Die Mittlerstellung der Niederlande zwischen West- und Mitteleuropa, Leipzig und Berlin 1933, 7
[5] Nachfragen beim Sohn des Freiherrn führten jedoch zu keinen Hinweisen, die diese Vermutungen bestätigen könnten. Übrigens verliefen auch Alfred Estermanns Bemühungen, etwas über Koeppens Freundschaft zu Jan Apon herauszufinden, im Sande. Koeppens niederländische Bekanntschaften haben wenig Spuren hinterlassen, und es drängt sich der Eindruck einer großen Einsamkeit auf. 

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