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Samstag, 13. Juli 2013

Mitleid mit Polyphemos (II): Sakrale Musik in Holland


Noch in den achtziger Jahren konnte es dir in den Niederlanden in einem öffentlichen Konzertsaal passieren, dass, wenn die letzten Töne einer sakralen Musik von Bach, Beethoven oder Mozart verklungen waren und du zum Beifall ansetztest, man von allen Seiten böse angeguckt und sogar angezischt wurde. So etwas passiert einem nur einmal, dann weiß man es.
Einmal also ist es mir passiert: Ich hatte das Sakrileg begangen, die hohe Kunst einer Musik, die nur für Gott bestimmt war, durch mein profanes menschliches Klatschen zu entweihen. Nie wieder habe ich eine solche schockartig hereinbrechende Fremdheit in einem vermeintlich vertrauten Bezugsrahmen erlebt. Ich war nicht mehr Teil dieses Publikums, ich hatte mich ausgeschlossen oder wurde ausgeschlossen, je nach Bezugsperspektive. Die Fremdheitserfahrung war nachhaltig und tauchte übrigens in schwächerer Form auch in vielen Alltagssituationen im Umgang mit Niederländern auf.
Der Unterschied zwischen ästhetischem und evangelischen Musikerleben war mir geläufig, nur die calvinistische Konsequenz hierin hatte ich noch nie erfahren. Und soweit ich das überblicke, gibt es das heute auch nicht mehr. Allerdings: Funktioniert der Bezugsrahmen des ästhetischen Erlebens „ernster“ Musik in heutigen europäischen Konzertsälen eigentlich so ganz anders? Auch hier versammeln sich Menschen in äußerster Disziplin, um sich zwei oder mehr Stunden lang einer hoch kunstvollen Musik hinzugeben. Dieses Stillsitzen, diese Körperkontrolle, diese Konzentration, dieses Schweigen: Richten sich diese asketischen Fähigkeiten auf die Musik allein oder auf etwas dahinter oder auf etwas ganz Anderes? „Huster“ werden böse angeguckt und wehe, deine Tüte mit den Hustenbonbons knistert!


Trouble with Polyphemos
Über Bezugsrahmen gesprochen: Einmal haben wir ein ganz anderes Beispiel erlebt. In einer szenischen Aufführung der Händeloper Acis und Galatea saß in der ersten Reihe ein junges Mädchen mit Blindenhund. Als auf der Bühne Polyphemos und Acis im Kampf miteinander umher trampelten, dass der Boden erzitterte, wurde der Hund unruhig und begann schließlich zu bellen. Die Sänger unterbrachen die Szene und bogen sich vor Lachen; der ganze Saal lachte mit. Polyphemos bat die junge Dame in vollendeter Höflichkeit, ob sie sich nicht eventuell etwas weiter nach hinten setzen könnte. Der Hund führte sie. Und weiter ging’s.

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