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Samstag, 26. Januar 2013

Der Philosoph auf dem Fahrrad – Sloterdijk und Napoleon beim täglichen Fitnesstraining

In seinem Denktagebuch “Zeilen und Tage” mit Notizen aus den Jahren 2008-2011 widmet sich Peter Sloterdijk anderthalb brillante Seiten lang dem Genie Napoleons: An Hegels Wort von der “Weltseele zu Pferde” habe man immer die “Pferd- und Reiterseite” unterschätzt:



“Man muss sich Napoleons Kondition aber vor allem als Trainingseffekt einer physischen Praxis denken, genauer einer kavalleristischen Lebensform. Wenn der kleine Korse seine Mitwelt überrollte, dann auch, weil er als Energiesubjekt im Sattel einen uneinholbaren Trainingsvorsprung vor allen anderen machthabenden Zeitgenossen besaß. Neben ihm waren der Zar und der Kaiser in Wien kaum mehr als couch potatoes.
Der energische Mann aus Corte bewältigte im Sattel auch die längsten Strecken, es sind Ritte von 12 Stunden bezeugt, die er gelassen bewältigte, alle zwei Stunden die Pferde wechselnd. Bei seinem legendären Ritt von Valladolid nach Burgos im Januar 1809 legte er über 120 Kilometer im Galopp zurück. […] Napoleon war nicht so sehr ein Genie, sondern ein Fitnessphänomen.”

Peter Sloterdijk, Zeilen und Tage (Berlin 2012), 264
Wenige Zeilen und Tage später berichtet Sloterdijk von einer Radtour, die er gerade hinter sich hat:

“Der längste Radausflug des Sommers: Von Wien Mitte nach Hainburg an der Donau nahe der tschechischen Grenze, bei starker Sonne, immer am Wasser entlang, zurück via Schwechat und durch den endlos gedehnten 11. Bezirk, vorbei am Zentralfriedhof. Der Tagestacho zeigt 122 Kilometer” (270).
Ich dachte sofort: Junge, Junge, zwei Kilometer mehr als Napoleon! (siehe oben) - und dann: Warum steht das hier? Sieht sich der Philosoph auf dem Drahtesel als heutige Spielform des rastlosen Genies, nur eben – in diesen spezialistischen Zeiten -  auf den Feldern der Philosophie? Sloterdijks mediale und physische Omnipräsenz lassen so etwas vermuten. Allerdings wusste Napoleon auf seiner feldherrlichen linea recta genau um die Richtung seines Schwertes und um die Stunde, die geschlagen hatte, während Sloterdijks Radtour in einem sinnfreien postmodernen Zirkel verläuft, am Ende “endlos gedehnt” und im Anblick des Wiener Zentralfriedhofs . Nur dem invertierten Training in den akademischen Sporthallen gilt letztlich seine Atemlosigkeit.

Doch in seinen exklusivsten Momenten erreicht auch er den Zustand, den er bei Napoleon als “umgekehrt ikarisches Phänomen” bezeichnet, den “Daseinsmodus als Sturz nach oben”. Ein paar Zeilen und Tage später zum Beispiel:
“Das Rad läuft ruhig den Berg hinauf, mühelos, ein stehendes Jetzt im Sattel” (284).
Das verschlägt mir als couch potato – in zweifelhafter Gesellschaft des Zaren und des Kaisers – dann doch den Atem.

Das Pferd Napoleons hieß übrigens Marengo. Wie mag wohl Sloterdijks Fahrrad heißen?

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