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Freitag, 28. September 2012

Die Stille der Welt nach Hitler: Hans Ulrich Gumbrechts Theorie der Gegenwart („Nach 1945“)


Die Stille der Welt nach Hitler
Überlegungen zu Hans Ulrich Gumbrechts Buch „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“[i]
für J.d.H.[ii]
Präludium: Im Getöse
Im August 1933 wurde der Volksempfänger VE 301 in Deutschland eingeführt, ein preiswertes Radio, das die Stimme Hitlers bis in den letzten deutschen Haushalt tragen sollte. In den darauf folgenden sechs Jahren bis zum Kriegsbeginn wurden mehrere Millionen Exemplare unters Volk gebracht, die für eine weltweit einzigartige Durchdringung des öffentlichen Raumes und aller privaten Räume des deutschen Reiches mit den Stimmen der Herrschenden und dem ihnen entgegengebrachten Jubel sorgte.

Die Typenbezeichnung VE 301 verweist auf den Tag der Machtergreifung, den 30. Januar 1933. Das schon bald als „Goebbels‘ Schnauze“ bezeichnete Gerät wurde zum Instrument der totalen Mobilmachung, bis die grellen Stimmen von Hitler und Goebbels im Getöse der Bomben, Kanonen und Stalinorgeln untergingen. Am 8. Mai 1945 begann schlagartig die Stille nach Hitler.
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Die Stille der Welt nach Hitler
Die Generation der um 1948 in Westeuropa Geborenen erreicht jetzt das Pensionsalter. Der Zufall will es, dass sie ihre Kindheit in einer Zeit allgemeiner Stille und Unbestimmtheit verbracht hat und das Ende ihres Arbeitslebens in einer globalen Phase der Erinnerung und des Rückblicks und wiederum der Unbestimmtheit und der Krisenhaftigkeit erreicht. Eigenschaften, die eigentlich eher als generelle Merkmale eines individuellen Lebenslaufes gelten, sind zufällig gleichzeitig überindividuelle kulturelle Merkmale der Epoche nach 1945. Die Stille im Lande der Täter in den zwei Jahrzehnten nach 1945, sie hatte ihr Pendant in den Ländern der Opfer. Die Erinnerungswellen der letzten zwanzig Jahre: sie vereinen die Nachkommen der Täter mit den Nachkommen der Opfer unter ein kulturelles Paradigma.

Die Versuchung liegt nahe, aus der Parallelität des eigenen Lebens mit den Epochenmerkmalen weitergehende Schlüsse ziehen zu wollen. Diesen Schritt hat jetzt der – 1948 geborene - deutsch-amerikanische Komparatist und Geschichtstheoretiker Hans Ulrich Gumbrecht getan. In seinem Buch „Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart“ (Berlin 2012) spricht er von einer „zurückhaltenden Stimmung in der Mitte des 20. Jahrhunderts“, die „nicht auf Deutschland, ja nicht einmal – wie man vielleicht meinen könnte – auf die Kriegsteilnehmerländer beschränkt gewesen“ sei (31-32).
„Ich möchte das Wort ‚Verdrängung‘ für das, was damals vor sich ging, vermeiden. […] Die Irritationen der Kriegsjahre wurden nicht ‚verdrängt‘, sie verschwanden vielmehr als sie Teil einer neuen, ruhigen Welt wurden. […] Und während die durch die irreversible Zerstörung verursachten Gefühle nachließen, begann sich rasch ein Gefühl der Latenz durchzusetzen. […] Wenn ich von Latenz spreche statt von ‚Verdrängung‘ oder ‚Vergessen‘ -, dann meine ich die Art von Situation, die der niederländische Historiker Eelco Runia ‚Präsenz‘ nennt und die er mit der Metapher des blinden Passagiers veranschaulicht“ (39).

Im Zeit-Stau
Das latent Vorhandene ist in seiner Verborgenheit nicht ohne weiteres zu fassen und offenbar auch nicht mit den traditionellen Methoden des Historikers zu analysieren. Gumbrecht will dennoch den Formen der Latenz, die seit 1945 global wirksam seien, auf die Spur kommen. Sie sind für ihn Hinweise auf den gegenüber den letzten zwei Jahrhunderten völlig veränderten Charakter von ‚Zeit‘ und ‚Geschichte‘, in der wir uns bewegen. Um das beschreiben zu können, bedient er sich einer Mischung aus autobiografischen Skizzen, historisch erzählenden Kommentaren und zitierten Quellen, die vornehmlich literarischer Art sind.

Er beginnt in Bayern mit der Süddeutschen Zeitung vom 15. Juni 1948, lässt allerlei Berichte aus dem In- und Ausland, die dort vermeldet werden, Revue passieren, reflektiert sie ein bisschen und geht dann über auf ein referierendes Erzählen historischer Ereignisse, beschäftigt sich ein paar Seiten lang mit Heideggers „Brief über den Humanismus“ und landet bei seiner eigenen Familiengeschichte. Der 15. Juni 1948, er sagt es nicht explizit, ist natürlich sein Geburtstag.
Die ersten Quellenbeispiele sind bekannte literarische Texte: Jean-Paul Sartres Geschlossene Gesellschaft und Samuel Becketts Warten auf Godot, Theaterstücke, in den es „um die Unmöglichkeit, einen Raum und eine grundlegende existenzielle Situation zu verlassen“ geht. Oder umgekehrt in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür: Beckmann kommt nicht wieder hinein. Die Beispiele werden im Laufe der Kapitel, die die verschiedenen Formen der Latenz behandeln, erweitert, auch um Beispiele aus Ländern, die nicht am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben. Der Zeitrahmen geht nicht über die fünfziger Jahre hinaus.

Am Ende des sechsten Kapitels resümiert Gumbrecht als gemeinsame Erfahrung der „Menschheit“ nach 1945, „dass es nicht mehr möglich war, irgendetwas ‚hinter sich‘ (oder ‚in der Vergangenheit‘) zu lassen. Das daraus entstandene „Labyrinth und der Stau sind nur eine Dimension der mutmaßlichen Stimmung, die im ersten Nachkriegsjahrzehnt herrschte. Die andere und mit ihr verbundene Dimension ist die bereits erwähnte – und selbst aus heutiger Sicht noch überraschende Leichtigkeit, mit der sich die Menschheit schon bald von der Erfahrung des Krieges und seiner Traumata zu entfernen schien“ (236).
Doch bleiben wir bei dem Labyrinth, in dem sich die Dinge stauen beziehungsweise ohne Ausweg im Kreis bewegen. „Diese zirkuläre Bewegung […] hat meiner Meinung nach die Möglichkeit einer alternativen (nicht-historistischen) ‚Zeitkonstruktion‘ (oder eines neuen ‚Chronotopen‘) gut ein halbes Jahrhundert lang eingekapselt, dieser neue Chronotop war sozusagen ‚im Winterschlaf‘ – und erst heute, zu Anfang des 21. Jahrhunderts, kann er langsam beginnen sich zu zeigen“ (239). Die Latenz beginnt sich zu entbergen, und so trägt das letzte Kapitel den vielverheißenden Titel „Entbergung von Latenz? Meine Geschichte mit der Zeit“.

Es nimmt die verquirlte Darstellungsweise des ersten Kapitels wieder auf und schildert unter anderem die weitere Familiengeschichte, die intellektuell-wissenschaftliche Geschichte Gumbrechts und – in wirklich sehr allgemeinen Zügen - die politische Geschichte bis zur Gegenwart. Literarische Belege finden sich nur noch sehr sparsam. Jean François Lyotard (La condition humaine, 1979) wird hervorgehoben: Er „wagte als Erster die Behauptung, dass die historische Zeit zum Ende gekommen sei“ (307). Gumbrecht meint also nichts weniger konstatieren zu müssen als das Ende der Geschichtsauffassung, die zwischen der französischen Revolution und 1945 geherrscht hat. Die Geschichte selbst müsse historisiert werden.
„Die Frage, die noch bleibt, ist die nach den Gründen für eine solche chronotopische Veränderung – doch immer, wenn ich mir diese Frage stelle, fallen mir nur Antworten ein, die derartig abstrakt und allgemein sind, dass sie beliebig und banal wirken. Mögliche Gründe, die mir in den Sinn kommen, sind ‚eine gewachsene äußere und innere Komplexität der Welt‘ oder ‚der durch die Zerstörungskraft des Zweiten Weltkriegs verursachte Schock‘ – und dann lasse ich es, ziemlich unbeeindruckt von meinen eigenen Lösungen, sein und überzeuge mich selbst, dass ich froh sein kann, das Latenzgefühl der Mitte des 20. Jahrhunderts als ersten Stau in der historischen Zeit beschrieben zu haben – und dass sich dieser Stau als frühes Symptom der Entstehung eines neuen Chronotopen erwies“ (307).

Die Radikalität dieses Schlusses ist für den Leser von Gumbrechts Buch dann doch sehr überraschend. Während die Passagen zu den fünfziger Jahren, die den Hauptteil des Buches ausmachen, in ihrer transnationalen Darstellung mit vielen einleuchtenden Beispielen durchaus mit Erkenntnisgewinn zu lesen sind, wird es im letzten Kapitel einerseits richtig spannend, andererseits gleich in mehrerer Hinsicht tief enttäuschend. Die historisch erzählenden Passagen haben wegen ihrer Allgemeinheit seitenweise den Charakter mittelmäßiger Seminararbeiten, und der „Beweis“ des neuen Chronotopen fällt dann doch sehr dürftig aus. Gumbrechts Suche gleicht der nach einem Spuk, seine Funde den schemenhaften Fotos der ghostbusters.

Das Ende der Geschichte?
Hans Ulrich Gumbrecht gehört zur ersten Generation nach 1945. Das ist auch meine Generation. Es ist unsere europäische Generation, deren Eltern noch das Getöse der Bomben in den Knochen hatten. Wir wuchsen in der Stille der Welt nach Hitler auf. 1968 erlebten wir das trügerische Gefühl, Geschichte machen zu können. 1989 erfuhren wir verwundert, wie scheinbar aus dem Nichts große Geschichte geschieht. 2001 nahmen wir schockiert zur Kenntnis, dass es einen unsichtbaren und ungreifbaren Feind gibt. 2012 fühlen wir uns als hilflose Opfer einer abstrakten Krise.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass Niklas Luhmann ausgerechnet im Jahr 1968 ein Buch mit dem Titel  „Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“[iii] veröffentlichte. Es wird damals kaum viele Leser in der 68er Generation gefunden haben, die ihr Vertrauen in die Institutionen gerade so gründlich verloren hatte. Wie Gumbrecht nimmt auch Luhmann an einer Stelle das große Wort von der „Menschheit“ und ihrer Vergangenheit in den Mund:
„Die Menschheit kann das, was sie durchlebt hat, nicht der Vergangenheit überlassen. Sie muss es in wesentlichen Zügen sich als ihre Geschichte laufend vergegenwärtigen, weil Geschichte ihr wichtigstes Mittel der Reduktion von Komplexität ist. Auf diese Weise löst die Zeitdimension in ihrem Vergangenheitsaspekt ein Problem, das eigentlich in die Sozialdimension gehört: unerwartetes Handeln auszuschließen“ (Luhmann, Vertrauen, 17).

Sollte die Geschichte den Historikern unter ihren Händen entglitten sein, ohne dass sie es bemerkt hätten?  Unser Fach hat längst nicht mehr den Telos des 19. Jahrhunderts. Trotz der gewachsenen äußeren und inneren Komplexität der Welt, trotz des Zeit-Staus, trotz der Daten-Flut haben die Historiker das Vertrauen in die Geschichte beziehungsweise in die Darstellbarkeit von Geschichte nicht verloren, denn dieses Vertrauen ist unter anderem auf die Art und Funktion von Komplexitätsreduktion gegründet, wie wir sie bei Luhmann beschrieben finden.
Unsere Gegenwart ist breiter geworden, der Vorrat an Zukunft schmaler.[iv] Das Arbeitsfeld des Gegenwartshistorikers ist gewachsen. „Zeitgeschichte“ war ja in den Jahrzehnten nach 1945 in Westdeutschland nahezu ausschließlich die Geschichte der Hitlerzeit. Heute geht es um Globalgeschichte, Weltgeschichte, Umweltgeschichte etc., Konzepte, die in den weltoffenen Niederlanden bereits viel früher als in Deutschland entwickelt oder angewandt wurden. Die neue Komplexität hat zu vielerlei Experimenten mit alternativen Formen von Geschichtsschreibung geführt. In diesem Zusammenhang darf Gumbrechts Buch einen Vertrauensvorschuss erhalten. Es lässt sich durchaus mit Gewinn lesen. Aber verdient es unser Vertrauen am Ende auch?

„Die Anleitung des Erlebens durch Konstitution von Sinn und Welt zur Erfassung komplexer Daseinsbedingungen ist eine intersubjektive Leistung“ (Luhmann, Vertrauen 15).

Der primadonnenhafte Intellektuelle Gumbrecht führt am Ende seines Buches seitenlang Personen auf, mit denen er über seine Gedanken im Gespräch war, und er charakterisiert kurz ihre Reaktionen. Gerade das weckt jedoch mein Misstrauen. Ein Buch zu schreiben, das die eigene Lebens- und Bildungsgeschichte mit der großen Weltgeschichte verquirlt, ist schon ein beispielloser narzisstischer Akt. Gumbrecht fehlt die Nüchternheit und das Vertrauen des Historikers zur Geschichte.

Viele Altachtundsechziger haben die Kurve noch gekriegt (und auch ihren Luhmann dann noch gelesen). Ich kenne ein paar, und wir feiern heute einen von ihnen. Er ist ein Historiker unseres Vertrauens. Historiker können pensioniert werden, die Geschichte nicht.


[i] Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012
[ii] Dieser Artikel wurde für eine Festschrift anlässlich der Pensionierung eines Kollegen geschrieben.
[iii] Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968
[iv] Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010

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