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Samstag, 9. Juni 2012

Walter Kappacher, Land der roten Steine (2): Ein Landarzt

Nein, man darf Selina nicht vergessen. Im „Land der roten Steine“ übernimmt die Amerikanerin Monica ihre Rolle. Die abwesende Monica wird – wie Dantes Beatrice – zu einer Obsession Wesselys und bestimmt seine Gedanken, seine Träume, sein Handeln. Er hatte sie vor einigen Jahren zufällig in der Nähe von Gastein kennengelernt, als sie mit angeknackstem Knöchel am Wegesrand saß. Seine Beziehung zu ihr war nur kurz, aber intensiv gewesen. Sie war es, die ihm zu dieser Reise geraten und ihm das Buch von Edward Abbey geschickt hatte.
„Die Erinnerung an Monica schien sich endlich in entlegene Canyons (sic!) seines Kopfes zurückgezogen zu haben“ (12), sagt der Erzähler am Anfang über Wessely, aber als dieser sich hinsetzt und den Bericht seiner Reise schreiben will, kehrt sie zurück: „Hier sitze ich, ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das im Gestaltlosen hinter mir liegt und dessen ich doch innegeworden war…“ („Ein alter Landarzt“? Hier öffnet Kappacher ein Fensterchen zu Kafkas Erzählung Ein Landarzt!) Und Wessely spricht die Abwesende an:
„Heute Nacht hat mir wieder einmal von dir geträumt, Monica. Wir standen auf der Treppe meines Hauses, und ich überlegte: hinauf oder hinunter? Nun denke ich schon seltener an dich und schäme mich nicht mehr meiner verrückten Besessenheit. Unser Nachmittag war das Schönste, was ich mit einer Frau je erlebt habe. Und du hast mich in The Maze gebracht. Das seien ganz andere Gebirge, hast du gesagt, dort sei der Mensch dem, was wir Gott nennen, näher als hier zwischen den in den Himmel ragenden, unheimlichen, spitzen Bergen mit ihrem ewigen Eis“ (28).
(Hier deutet sich zum ersten Mal eine Gegenüberstellung der amerikanischen und der österreichischen Gebirgswelt an, einer hellen, paradiesischen und einer dunklen, verschneiten, eisigen Welt.)
Monica hat etwas Geheimnisvolles, Unergründliches. Sie scheint mit anrüchigen Geldgeschäften zu tun zu haben. Ihren Aufenthalt im „Grünen Hof“ in Gastein beschreibt sie als ein prächtiges Versteck und in ihrem Telegramm aus den USA, das Wessely nach der Reise erreicht, schreibt sie, sie habe drei Jahre „unter falschen Anschuldigungen“ im Gefängnis gesessen. Sie unterzeichnet mit „Mrs. Signorelli-Gordon“. Signorelli? Offenbar ist Monica mit einem Italiener verheiratet. (Und mit diesem Namen verbindet sich einer der größten Renaissance-Maler Italiens: Luca Signorelli, dessen Hauptwerk das dreiteilige Fresko Das Jüngste Gericht in der Capella Nuova in Orvieto ist. Das Jüngste Gericht, Paradies und Verdammnis: Kappacher, dem so viel Zurückhaltung nachgesagt wird, ist in der symbolischen Aufladung seiner Figuren geradezu aufdringlich!)
Wesselys Träume drehen sich um Monica, vor, während und nach der Reise. Sie ist die Ursache und das Ziel dieser Expedition, deren Höhepunkt in der Besichtigung der Jahrtausende alten Felsmalereien der Great Gallery besteht: rätselhafte, lebensgroße Figuren. Hier vermischen sich Realität und Traum:
„Ich ging auf der linken Seite der Gallery entlang, bis ich vor einer Figur beinah erschrak: Es musste die Abbildung des Holy Ghost sein, von der Everett während der Wanderung kurz gesprochen hatte. Die Figur war größer als die anderen, durchsichtig, mit riesigen Augenhöhlen und einem bis zum Nabel skizzierten schmalen Bart. Dicht neben ihm zur Seite zwei ganz schwarz gemalte kleinere Figuren, offensichtlich Frauengestalten“ (114-115).

In dem Roman, dessen Titel Kappacher als Überschrift für sein drittes Kapitel gewählt hat, Onettis De vida breve (1950), erfindet sich die vom Leben frustrierte Hauptperson ein Alter Ego in der imaginierten Kleinstadt Santa Maria, einen Arzt, der sich in eine Patientin verliebt. In einem selbsttherapeutischen Akt spielt die Hauptperson mit dieser Figur allerlei alternative Möglichkeiten des Lebens durch, freilich ohne damit zu einer wirklichen Lösung zu kommen. Dies ist auch das poetologische Prinzip in Kappachers Roman. Wessely ist nicht Kappacher, er ist sein Avatar.

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