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Samstag, 23. Juni 2012

EYE wide open: Kubrick vs. Schnitzler

Anlässlich von „Stanley Kubrick: The Exhibition“ im neuen Amsterdamer Filmmuseum EYE bringe ich die Gegenüberstellung der spektakulären Szene aus Arthur Schnitzlers Traumnovelle (1926) und ihrer filmischen Umsetzung in Kubricks Eyes Wide Shut (1999): die Beschreibung einer Orgie, bei der es um die voyeurhafte Lust am Verhüllen und Enthüllen, Schauen und Beschautwerden geht.

Schnitzler arbeitete gerne mit Gegensätzlichkeiten: die in einem dunklen hohen Saal einer alten Villa Versammelten tragen Mönchs- und Nonnenkleidung, Zeichen der Entsagung, der Keuschheit; alle sind sie maskiert. Dann begeben die Nonnen sich in den benachbarten blendend hellen Raum, werfen dort ihre Kleidung ab und stehen völlig nackt da, bis auf die Maske, die ihre Identität verbirgt. Sie setzen sich still und aufrecht den Blicken hinter den Mönchsmasken aus: die Gleichzeitigkeit von totaler Entblößung und Verhüllung. Acht Mal kommen in dieser Textpassage Augen und Blicke vor, bohrende, tiefe Blicke und die „unsägliche Lust des Schauens“. Die Szene ist stark erotisch aufgeladen. Die Mönche werfen die schwarzen Kutten ab, unter denen sie weiße und farbige Festkleidung tragen und wählen jeweils eine Nackte zum Tanz. Dann wird Fridolin, der dies alles in wachsender Erregung beobachtet hat, hinausgeschickt.

Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut (1999), dessen Plot auf Schnitzlers Text beruht, führt diese Szene in aller Ausführlichkeit als ein mehr sektenartiges Ritual vor, präsentiert sie aber stilisierter und unerotischer als bei Schnitzler. Die Frauenkörper gleichen sich und wirken wie Schaufensterpuppen. Auch das sich anschließende vielfache Kopulieren, das bei Schnitzler gar nicht vorkommt, hat etwas Mechanisches, nichts Reizvolles.
Ich kann den Vergleich zwischen Buch und Film hier nicht weiter fortführen, habe aber den Eindruck, dass Kubrick dem Raffinement Schnitzlers nicht gerecht wird. Es war sein letzter Film und nicht sein bester. Aber es sind schöne Beispiele zum voyeurhaften Sehen.
Ich stelle die oben beschriebene Szene in der Text- und in der Filmversion vor:
»Parole?« umflüsterte es ihn zweistimmig. Und er erwiderte: »Dänemark.« Der eine Diener nahm seinen Pelz in Empfang und verschwand damit in einem Nebenraum, der andere öffnete eine Tür, und Fridolin trat in einen dämmerigen, fast dunklen hohen Saal, der ringsum von schwarzer Seide umhängt war. Masken, durchaus in geistlicher Tracht, schritten auf und ab, sechzehn bis zwanzig Personen, Mönche und Nonnen. Die Harmoniumklänge, sanft anschwellend, eine italienische Kirchenmelodie, schienen aus der Höhe herabzutönen. In einem Winkel des Saales stand eine kleine Gruppe, drei Nonnen und zwei Mönche; von dort aus hatte man sich flüchtig zu ihm hin und gleich wieder, wie mit Absicht, abgewandt. Fridolin merkte, daß er als einziger das Haupt bedeckt hatte, nahm den Pilgerhut ab und wandelte so harmlos als möglich auf und nieder; ein Mönch streifte seinen Arm und nickte einen Gruß; doch hinter der Maske bohrte sich ein Blick, eine Sekunde lang, tief in Fridolins Augen. Ein fremdartiger, schwüler Wohlgeruch, wie von südländischen Gärten, umfing ihn. […]

Plötzlich flüsterte eine weibliche Stimme hinter ihm: »Wenden Sie sich nicht nach mir um. Noch ist es Zeit, daß Sie sich entfernen. Sie gehören nicht hierher. Wenn man es entdeckte, erginge es Ihnen schlimm.«

Fridolin schrak zusammen. Eine Sekunde lang dachte er der Warnung zu folgen. Aber die Neugier, die Lockung und vor allem sein Stolz waren stärker als jedes Bedenken. Nun bin ich einmal so weit, dachte er, mag es enden, wie es wolle. Und er schüttelte verneinend den Kopf, ohne sich umzuwenden.

Da flüsterte die Stimme hinter ihm: »Es täte mir leid um Sie.«

Jetzt wandte er sich um. Er sah den blutroten Mund durch die Spitzen schimmern, dunkle Augen sanken in die seinen. »Ich bleibe«, sagte er in einem heroischen Ton, den er nicht an sich kannte, und wandte das Antlitz wieder ab. Der Gesang schwoll wundersam an, das Harmonium tönte in einer neuen, durchaus nicht mehr kirchlichen Weise, sondern weltlich, üppig, wie eine Orgel brausend; und um sich schauend, merkte Fridolin, daß die Nonnen alle verschwunden waren und sich nur mehr Mönche im Saale befanden. Auch die Gesangsstimme war indes aus ihrem dunklen Ernst über einen kunstvoll ansteigenden Triller ins Helle und Jauchzende übergegangen, statt des Harmoniums aber hatte irdisch und frech ein Klavier eingesetzt. Fridolin erkannte sofort Nachtigalls wilden, aufreizenden Anschlag, und die vorher so edle weibliche Frauenstimme hatte sich in einem letzten grellen, wollüstigen Aufschrei gleichsam durch die Decke davongeschwungen in die Unendlichkeit. Türen rechts und links hatten sich aufgetan, auf der einen Seite erkannte Fridolin am Klavier die verdämmernden Umrisse von Nachtigalls Gestalt, der gegenüberliegende Raum aber strahlte in blendender Helle, und Frauen standen unbeweglich da, alle mit dunklen Schleiern um Haupt, Stirn und Nacken, schwarze Spitzenlarven über dem Antlitz, aber sonst völlig nackt. Fridolins Augen irrten durstig von üppigen zu schlanken, von zarten zu prangend erblühten Gestalten; – und daß jede dieser Unverhüllten doch ein Geheimnis blieb und aus den schwarzen Masken als unlöslichste Rätsel große Augen zu ihm herüberstrahlten, das wandelte ihm die unsägliche Lust des Schauens in eine fast unerträgliche Qual des Verlangens. Doch wie ihm erging es wohl auch den andern. Die ersten entzückten Atemzüge wandelten sich zu Seufzern, die nach einem tiefen Weh klangen; irgendwo entrang sich ein Schrei; – und plötzlich, als wären sie gejagt, stürzten sie alle, nicht mehr in ihren Mönchskutten, sondern in festlichen weißen, gelben, blauen, roten Kavalierstrachten aus dem dämmerigen Saal zu den Frauen hin, wo ein tolles, beinahe böses Lachen sie empfing. Fridolin war der einzige, der als Mönch zurückgeblieben war, und schlich sich, einigermaßen ängstlich, in die entfernteste Ecke, wo er sich Nachtigall nahe befand, der ihm den Rücken zugewendet hatte. Fridolin sah wohl, daß Nachtigall eine Binde um die Augen trug, aber zugleich glaubte er zu bemerken, wie hinter dieser Binde seine Augen in den hohen Spiegel gegenüber sich bohrten, in dem die bunten Kavaliere mit ihren nackten Tänzerinnen sich drehten.

Plötzlich stand eine der Frauen neben Fridolin und flüsterte – denn niemand, als müßten auch die Stimmen Geheimnis bleiben, sprach ein lautes Wort : »Warum so einsam? Warum schließest du dich vom Tanze aus?«

Fridolin sah, daß von einer anderen Ecke her ihn zwei Edelleute scharf ins Auge gefaßt hatten, und er vermutete, daß das Geschöpf an seiner Seite – es war knabenhaft und schlank gewachsen – zu ihm gesandt war, ihn zu prüfen und zu versuchen.

(Arthur Schnitzler, Traumnovelle, 1926)

Und hier ist die Filmversion (bitte anklicken).

Freitag, 22. Juni 2012

Deutschland - Griechenland: Hommage an Melina Mercouri

Noch so ein Lied, das ich nur als deutschen Schlager kannte: „Ein Schiff wird kommen“ von Melina Mercouri. Den Film dazu, der in Deutschland unter dem Titel „Sonntags… nie!“ 1960 in die Kinos kam, habe ich nie gesehen. Kein großer Film vielleicht, aber die Szene, in der Melina das Lied singt, ist großartig. Und Melina als Frau, Mensch und Politikerin auch! Auf besonderen Wunsch von Gerlinde G. kommt jetzt das Mädchen aus Piräus:

Deutschland – Griechenland: Hommage an Nana Mouskouri


„Weiße Rosen aus Athen“: Irgendwie war Nana Mouskouris Lied für mich immer ein deutscher Schlager, aber 1961 war ich auch noch sehr jung. Für wen mag wohl heute Abend dieses „Auf Wiedersehen“ gelten?


Weiße Rosen aus Athen
Sagen dir Auf Wiedersehn
Der Tag erwacht
Die Sonne, sie kommt wieder
Und wieder kommt nun auch
Der Abschied für uns zwei
Nun fährt dein Schiff
Hinaus mit Wind und Wogen
Doch es sind Grüße
Aus der Heimat mit dabei
Weiße Rosen aus Athen
Sagen dir komm recht bald wieder
Sagen dir Auf Wiedersehn
Weiße Rosen aus Athen
Weiße Rosen blüh'n an Bord
In der weiten, weiten Ferne
Blüh'n für dich allein so schön
Weiße Rosen aus Athen
Im fernen Land
Wo keiner auf dich wartet
Da seh'n die Sterne in der Nacht
Ganz anders aus
Dort ist die Welt so fremd
Und du bist einsam
Darum begleiten dich heut'
Blumen von zu Haus
Weiße Rosen aus Athen
Sagen dir komm recht bald wieder
Sagen dir Auf Wiedersehn
Weiße Rosen aus Athen
Auf Wiedersehn
Auf Wiedersehn
(Musik: Manos Hadjidakis / Text: Hans Bradtke)
“Wer mit einem Scheißdreck rammelt, er gewinne oder verliere, er gehet beschissen hinvon.”

Martin Luther

Mittwoch, 20. Juni 2012

Unhistorischer Sprachpurismus: der Verein Deutsche Sprache


Heute fand ich die „Sprachnachrichten“ des Vereins Deutsche Sprache in meinem Postfach, mit einem Hinweis von Walter S. Der 1997 gegründete Verein und dieses kleine Blättchen haben sich der Verteidigung der deutschen Sprache in einer zunehmend englischsprachigen Welt verschrieben. Auf der Website des Vereins kann die Zeitschrift auch kostenlos im pdf-Format gedownloadet werden (oder muss ich jetzt schreiben: heruntergeladen?).

„Ganz hübsch“, dachte ich auf den ersten Blick, aber beim Hineinlesen wurde mir schnell klar, dass wir es hier mit einer Gruppe konservativer bis reaktionärer Sprachpuristen zu tun haben, die den Sprachwandel in der modernen Medienwelt nicht wahrhaben wollen. Abgesehen von allerlei gerechtfertigten Verteidigungslinien des Deutschen unter anderem in der EU, finden sich hier doch auch ganz merkwürdige Standpunkte (zum Beispiel in der Rezension auf S. 21 mit dem Titel „Die kriechsüchtige Abschaffung von Deutsch“ von Gerd Schrammen, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins). Um den offenkundig deutschnationalen Hintergrund etwas zu kaschieren, gibt es auch allerlei kleine Artikel zur Verteidigung europäischer Regionalsprachen. Die nächste Themanummer erscheint im August und beschäftigt sich mit „Deutsch als Wissenschaftssprache“.
Es ist nicht dasselbe Horn, in das ich blase, wenn ich mich hier by the way bitter beklage, dass das Deutsche an der Universität Groningen fast völlig verschwinden wird. Auch in Studiengängen und Minoren, die sich mit der europäischen Kultur beschäftigen, kommen deutschsprachige Texte kaum noch vor. Dass europäische Kultur Sprachenvielfalt bedeutet, wird (auf Englisch) ignoriert. Ab dem nächsten Studienjahr verschwindet sogar das Fach Deutsch in der Form wie wir es seit Jahrzehnten kennen – es wird in dem euphorisch angepriesenen neuen Fach Europese Talen en Culturen „aufgehoben“ - und die Studenten werden dann vornehmlich auf Niederländisch und Englisch erfahren, dass es da irgendwo im Osten noch eine lästig zu sprechende kleine Nachbarsprache gibt.

Das ist nicht nur in Groningen so und betrifft nicht nur das Fach Deutsch. Die niederländischen Universitäten berauben sich der traditionellen philologischen Fächer. Wer wirklich Deutsch studieren will, dem kann man nur noch sagen: „Geh doch in den Osten!“

Dienstag, 19. Juni 2012

Hessis Turbo-Hessisch

Vermutlich haben nicht nur unsere niederländischen Leser ihre Probleme mit dem Turbo-Hessisch der Gruppe "Badesalz" aus dem Trickfilm “Hessi James” im vorigen Beitrag. Auch ein aufmerksam lauschender Ostfriese wie ich muss seine „luistervaardigheid“ auf die höchste Konzentrationsstufe bringen.

Zur Beruhigung mag beitragen, dass das ja vom Regisseur so gewollt war: das Maschinengewehr-Stakkato mit hoher Mündungsfeuergeschwindigkeit war ja gerade die Waffe, mit der Hessi seinen viel größeren und furchterregenderen Gegner bezwungen hat.
Wer Hessis Software, das Hessische, näher kennenlernen möchte, hat dazu im weltweiten Netz allerlei Möglichkeiten. Er kann natürlich auch einfach mal nach Frankfurt fahren.

Deutsche Trickfilme (2): Hessi James von Johannes Weiland

Den folgenden Trickfilm hat der Regisseur Johannes Weiland in Zusammenarbeit mit der hessischen Comedy-Gruppe "Badesalz" gemacht. So ist auch der Titel "Hessi James" (2002) zu verstehen: Der Revolverheld Jesse James wird hier zu Hessi, und Hessi spricht natürlich hessischen Dialekt.

Von „Badesalz“ hatte ich noch nie gehört. Ich bin ein langweiliger Intellektueller, der sich nie um die Comedy-Scene im deutschen Fernsehen bemüht hat. (Bin für Tipps immer dankbar.) Über die komische Qualität von „Badesalz“ kann ich also keine Aussagen machen. Sie bestehen aber schon seit den achtziger Jahren und haben doch wohl einen kontinuierlichen Erfolg beim deutschen Publikum.
Als Trickfilm ist die kleine Szene (knapp 5 Minuten) ganz hübsch. Ach ja, und nicht erschrecken: Hessi ist eine Kakerlake…


Juli Zeh

Freitag, 15. Juni 2012

Ror Wolf: Fußball-Remix

In zwei Wochen wird Ror Wolf, der zu meinen Lieblingsschriftstellern gehört, 80 Jahre alt. Er ist unter anderem mit seinen Texten zum Thema „Fußball“ bekannt geworden, bei denen es sich vor allem um Sprachcollagen aus der Fußballmedienwelt handelt. Wolf benutzt das Sprachmaterial von Fußballreportagen aus Zeitungen, Radio und Fernsehen und mischt es kreativ neu. Mit dieser Remix-Technik war er in den sechziger und siebziger Jahren wahnsinnig modern.

Seine kompletten Fußballtexte sind in dem Band „Das nächste Spiel ist immer das schwerste“ (zuletzt 2010 als Fischer-Taschenbuch) gesammelt. Einer der genialsten ist für mich immer noch die dreiseitige Textcollage „Ein Wort zum Boden oder Die merkwürdige Lage am zehnten Tag“ aus dem Bändchen „Danke schön. Nichts zu danken“ von 1969.
Phantastisch, aber Vorsicht: Das ist nicht jedermanns Sache.
Heute bringe ich aus aktuellem Anlass seine halbstündige Radio-Collage „Cordoba Juni 13:45“ (1979). Sie steht in drei Teilen auf YouTube. Die Bebilderung ist gut gemacht, aber nicht von ihm: dies ist ein Hörspiel.

Wolf hat hier die Originalkommentare der deutschen und österreichischen Übertragungen des 3:2 Sieges der Österreicher bei der Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien zusammengeschnitten. Ein Text zum Trost für alle in diesen Tagen Düpierten: Deutschland ist schlagbar…
(Wir bitten, die Bildstörungen zu entschuldigen.)



Donnerstag, 14. Juni 2012

Deutsche Trickfilme (1): “Quest” von Thomas Stellmach

Nachdem ich entdeckt habe, dass in Stuttgart jedes Jahr ein großes Trickfilmfestival stattfindet, habe ich ein wenig nach deutschen Trickfilmen gegoogelt. Da kannte ich mich bisher nicht aus, und es ist ja auch ein Genre, das nicht so sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommt.

Deshalb starte ich mit einer kleinen Reihe von kurzen deutschen Trickfilmen. Einige eignen sich ja vielleicht auch für den Deutschunterricht und könnten für viele unserer Leser nützlich sein.

Ich beginne mit einem Höhepunkt des deutschen Trickfilms, „Quest“ (Dauer: 10 Minuten) von Tyron Montgomery und Thomas Stellmach. Neben sehr vielen anderen internationalen Preisen hat er 1996 den Oscar für den besten animierten Kurzfilm gewonnen.

Sonntag, 10. Juni 2012

Anime-Film von Kafkas “Ein Landarzt”

Beim Googeln nach dem Text von Kafkas „Ein Landarzt“ habe ich eine japanische Anime-Verfilmung der Geschichte gefunden, die mich sehr fasziniert. Der Film ist 2007 unter dem Titel „Kafka – Inaka Isha“ erschienen. Der Regisseur Koji Yamamura hat bereits viele Preise hierfür bekommen, unter anderen den Grand Prix auf dem Trickfilmfestival Stuttgart 2008.

Die Version mit deutschen Untertiteln, die ich gefunden habe, steht in zwei Teilen auf Youtube:

Samstag, 9. Juni 2012

Walter Kappacher, Land der roten Steine (1): Ein Tryptichon

für Walter Schönau

Vor zwei Jahren haben wir im Landhaus Rothenberge Walter Kappachers Roman Selina oder Das andere Leben besprochen, die Geschichte eines deutschen Lehrers, der sich in ein verfallenes Bauernhaus in der Toskana zurückzieht.
Vielleicht hat Kappacher damals gefühlt, wie nah wir ihm, dem Scheuen, in unseren Gesprächen gekommen sind, jedenfalls lässt er seinen neuen Roman in einem fernen Land der roten Berge spielen. Das Buch ist gegliedert wie ein Tryptichon: der große Mittelteil fällt besonders ins Auge. Er enthält die überaus genaue Beschreibung einer fünftägigen Wanderung durch die faszinierende Berglandschaft des Canyonlands-Nationalparks im amerikanischen Bundesstaat Utah.

„Land der roten Steine“ (2012): Ein deutsches Amerikabuch, dachte ich beim ersten Lesen. Hatte ich Selina so schnell vergessen?

Kappachers Protagonist Michael Wessely, ein österreichischer Arzt kurz vor der Pensionierung, erfüllt sich mit dieser Reise einen Traum, und seine Beschreibung dieser Reise, die über die Hälfte des schmalen Büchleins einnimmt, lenkt den Leser zunächst einmal völlig von den komplizierten biographischen Bezügen der Hauptfigur ab. Wessely hat sich sorgfältig vorbereitet, nicht mit touristischen Reiseführern, sondern mit der Lektüre der Aufzeichnungen zweier Amerikaner, die in diesem Gebiet gelebt haben: die Briefe und Tagebücher von Everett Ruess und Edward Abbey’s  Desert Solitaire. A Season in the Wilderness. Beide Autoren werden in Wesselys Erzählung wiederholt angeführt. Ruess hatte sich mit 19 Jahren entschlossen, in der atemberaubenden Schönheit (und Gluthölle) der Canyons zu leben und war ein Jahr später (1934) spurlos verschwunden. (Sein Skelett wurde erst nach 75 Jahren 2009 in einem Felsspalt entdeckt.) Seine hymnischen Beschreibungen des Lebens in dieser Landschaft haben ihn in den USA zu einer Kultfigur gemacht. „Everett“, so heißt auch der indianische Führer Wesselys. Es lohnt sich immer, auf Kappachers Namengebungen zu achten.

Auch Edward Abbey (1927-1989) ist eine amerikanische Kultfigur: In Desert Solitaire (1968) berichtet er von seiner Zeit als Ranger für den National Park Service in den Jahren 1956/57. Das Buch gilt als eine der schönsten Naturbeschreibungen der amerikanischen Literatur und wird in einem Atemzug mit Thoreau’s Walden genannt. Mit den Flussaufstauungen im 20. Jahrhundert wurde den Canyonlands, die Jahrtausende von kleinen Indianerpopulationen bewohnt gewesen waren, das notwendige Wasser entzogen. Abbey ist über diese Entwicklung zum radikalen Naturschützer geworden.

Wandertouren dort bemessen sich heute nach der Literzahl Wasser, die man zu schleppen imstande ist. Wer sich dabei verrechnet, kommt um. Nicht nur ältere Menschen geraten hier körperlich an ihre Grenzen. Wesselys herzschwacher indianischer Bergführer zeigt ihm, teils mit dem Jeep, teils zu Fuß, die drei Teile des Nationalparks: Island in the Sky, Needles und als Höhepunkt The Maze, das Labyrinth.
Kappachers Beschreibungen gehört nun ihrerseits zu den schönsten und intensivsten Landschafts- und Naturbeschreibungen in deutscher Sprache. Sie vergegenwärtigen dem Leser das Naturerlebnis intensiver, als die Betrachtung eines noch so schönen YouTube-Filmchens es vermag.


Aber dies ist nur der mittlere Teil des Roman-Tryptichons. Was steht auf dem linken und rechten Seitenflügel, die den Bericht vom Land der roten Steine einrahmen? Spätestens wenn ich die drei Kapitelüberschriften nenne, wird klar, dass es sich hier – wie in Selina – um die Möglichkeit eines anderen, neuen Lebens handelt: Vita nuova, De vita beata, La vita breve. Dies sind gleichzeitig die Titel von Schriften der Weltliteratur, von Dante, Seneca, Juan Carlos Onetti, die gleichsam die Patenschaft für die drei Teile des Romans übernehmen sollen. Senecas Traktat Das glückliche Leben hat schon in Selina eine wichtige Rolle gespielt.

Das verlangt einen neuen Anlauf für meine Betrachtungen…

Walter Kappacher, Land der roten Steine (4): Postscriptum

Ich kann mir übrigens nicht vorstellen, dass Walter Kappacher die Beschreibung der Expedition durch die Canyonlands hat machen können, ohne sie selbst erlebt zu haben. Darüber ist mir aber nichts bekannt.

Hier ist noch ein Zitat aus dem Vorwort von Edward Abbey zu seinem Buch Desert Solitaire. A Season in the Wilderness, in dem er über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit schreibt, diese Landschaft mit Sprache zu erfassen:
This is not primarily a book about the desert. In recording my impressions of the natural scene I have striven above all for accuracy, since I believe that there is a kind of poetry, even a kind of truth, in simple fact. But the desert is a vast world, an oceanic world, as deep in its way and complex and various as the sea. Language make a mighty loose net with which to go fishing for simple facts, when facts are infinite. […]
Since you cannot get the desert into a book any more than a fisherman can haul up the sea with his nets, I have tried to create a world of words in which the desert figures more as a medium than as material. Not imitation but evocation has been the goal. […]
It will be objected that the book deals too much with mere appearances, with the surface of things, and fails to engage and reveal the patterns of unifying relationships which form the true underlying reality of existence. Here I must confess that I know nothing whatever about true underlying reality, having never met any. There are many people who say they have, I know, but they’ve been luckier than I.
Edward Abbey, Desert Solitaire. A Season in the Wilderness (1968) p. x-xi
Ich habe noch einmal geprüft, wie Kappacher vorgegangen ist. Seine Beschreibungen im zweiten Teil stimmen völlig mit diesen Vorgaben von Abbey zur Poetik des Faktischen und der Oberfläche der Dinge überein. Die mystischen Überhöhungen finden erst in Wesselys Erinnerungen und Träumen im dritten Teil statt. Ein schöner, ein kluger, ein weiser Roman!

Walter Kappacher, Land der roten Steine (3): Der Ruhestand

Im dritten Teil des Romans ist Wessely zurück im heimatlichen Gastein. Erst jetzt erfährt er vom Tode seines Vaters und seines einzigen Freundes Hans. Vorher waren schon seine Mutter und seine frühere Frau gestorben. Es wird einsam um ihn, und nun wird er auch noch seine Arbeit verlieren und sein Haus aufgeben. Er steht vor dem „Ruhestand“. Von Tag zu Tag schneit es mehr. „Der Schnee bedeckte jetzt anscheinend die ganze Welt“ (136). Das schränkt seine Bewegungsfähigkeit ein. Die Kutsche mit zwei Pferden (vergleiche Kafka: Ein Landarzt!), die täglich zum Gasthof Prossau fährt (dort in der Nähe war seine erste Begegnung mit Monica), will er nicht benutzen. Immer mehr ähnelt seine Situation der des Landarztes in Kafkas Erzählung. Das neue, das andere Leben: es will einfach nicht kommen. Die österreichische Bergwelt wird zur düsteren Gegenwelt der Canyonlands. Die Zeit läuft davon, das kurze Leben: „Plötzlich wischten die Jahre an ihm vorüber, und er dachte: Aber das war ja nichts!“ (139).

Und doch: Eines Tages beginnt es kurz zu tauen, und er erinnert sich an sein tiefstes Erlebnis vom Anfang seiner Reise:
„Er dachte, in meiner Reiseerzählung hab ich den Zustand, in den dieser Anblick mich am ersten Reisetag versetzt hat, zu beschreiben versucht, aber er war für mich jenseits des sprachlich Erfassbaren gewesen. Es handelte sich um etwas Unaussprechliches; er hatte – wie viele Wochen war das schon wieder her – sogar davor kapituliert, das, was sichtbar gewesen war, zu beschreiben, ohne die Empfindungen, die es auslöste. Etwas hatte sich in ihm gezeigt, das doch Materie war, Gestein, Form und gleichzeitig etwas wie strahlende, rätselhafte Energie. Seit unvorstellbaren Zeiten war es da gewesen, seit Ewigkeiten, so kann man Zeitläufte nennen, die dem Menschen unfassbar sind. Es zu schauen, war wohl das höchste an Glücksgefühlen gewesen, was er je erlebt hatte, so als hätte er für einen Moment in das seit Anbeginn verlorene Paradies blicken dürfen. Er wünschte sich heftig, diese Erinnerung kehre irgendwann wieder, er war sicher, dies würde ihm helfen zu dem neuen Leben zu gelangen, das er sich so sehr wünschte“ (149).
Die mystische Überhöhung, die hier einsetzt, unterstützt Kappacher noch mit den Schriften von Meister Eckhart und Paracelsus, die er Wessely lesen lässt. „Mit zwei Stichwörtern aus dem Index der Eckhart-Ausgabe wollte er sich einmal beschäftigen, mit dem Begriff des Lassens und jenem des Nichts. Beides, so fühlte er, hatte mit seinem künftigen Leben zu tun“ (146).
Kurz darauf trifft das Telegramm der verschwundenen Monica ein, in dem sie ihre Wiederkehr für den kommenden Mai und ihren Plan, in Europa zu bleiben, ankündigt. Dea ex machina? Der Traum der folgenden Nacht spricht dagegen:
„Auf einmal befand er sich mit ihr im Horseshoe Canyon. Monica streckte einen Arm aus und zeigte auf zwei sehr dunkelfarbige Figuren, sie bestanden nur aus einem kopfähnlichen Umriss, aus kantigen Schultern, und aus diesen Schultern wuchsen schlierenartige Bänder, die am Ende in feinen Windungen ausliefen. Monica bewegte sich auf die Figuren zu. Er rief ihr nach, aber sie war schon verschwunden, und er überlegte, wie er sich ihr anschließen könnte, doch die schmale Öffnung hatte sich schon wieder geschlossen“ (153).
Wessely beginnt, seinen Zustand und seine Einsamkeit zu akzeptieren. Er stellt sich die Bücher zurecht, die er lesen möchte, unter anderen eine schöne Goethe-Ausgabe. Seine Gedanken drehen sich um Gott und das Nichts. So bleibt wenig Hoffnung auf eine vita nuova. Stattdessen Neuschnee. „Die unberührten Schneewächten an den Wegrändern – derzeit konnte er sich nichts Schöneres vorstellen.“ (158). Das Begrüßungsfeuerwerk für das Neue Jahr: er will es nicht hören. Wir müssen uns Wessely als einen zufriedenen Menschen vorstellen.

Walter Kappacher, Land der roten Steine (2): Ein Landarzt

Nein, man darf Selina nicht vergessen. Im „Land der roten Steine“ übernimmt die Amerikanerin Monica ihre Rolle. Die abwesende Monica wird – wie Dantes Beatrice – zu einer Obsession Wesselys und bestimmt seine Gedanken, seine Träume, sein Handeln. Er hatte sie vor einigen Jahren zufällig in der Nähe von Gastein kennengelernt, als sie mit angeknackstem Knöchel am Wegesrand saß. Seine Beziehung zu ihr war nur kurz, aber intensiv gewesen. Sie war es, die ihm zu dieser Reise geraten und ihm das Buch von Edward Abbey geschickt hatte.
„Die Erinnerung an Monica schien sich endlich in entlegene Canyons (sic!) seines Kopfes zurückgezogen zu haben“ (12), sagt der Erzähler am Anfang über Wessely, aber als dieser sich hinsetzt und den Bericht seiner Reise schreiben will, kehrt sie zurück: „Hier sitze ich, ein alter Landarzt, und will etwas aufschreiben, das im Gestaltlosen hinter mir liegt und dessen ich doch innegeworden war…“ („Ein alter Landarzt“? Hier öffnet Kappacher ein Fensterchen zu Kafkas Erzählung Ein Landarzt!) Und Wessely spricht die Abwesende an:
„Heute Nacht hat mir wieder einmal von dir geträumt, Monica. Wir standen auf der Treppe meines Hauses, und ich überlegte: hinauf oder hinunter? Nun denke ich schon seltener an dich und schäme mich nicht mehr meiner verrückten Besessenheit. Unser Nachmittag war das Schönste, was ich mit einer Frau je erlebt habe. Und du hast mich in The Maze gebracht. Das seien ganz andere Gebirge, hast du gesagt, dort sei der Mensch dem, was wir Gott nennen, näher als hier zwischen den in den Himmel ragenden, unheimlichen, spitzen Bergen mit ihrem ewigen Eis“ (28).
(Hier deutet sich zum ersten Mal eine Gegenüberstellung der amerikanischen und der österreichischen Gebirgswelt an, einer hellen, paradiesischen und einer dunklen, verschneiten, eisigen Welt.)
Monica hat etwas Geheimnisvolles, Unergründliches. Sie scheint mit anrüchigen Geldgeschäften zu tun zu haben. Ihren Aufenthalt im „Grünen Hof“ in Gastein beschreibt sie als ein prächtiges Versteck und in ihrem Telegramm aus den USA, das Wessely nach der Reise erreicht, schreibt sie, sie habe drei Jahre „unter falschen Anschuldigungen“ im Gefängnis gesessen. Sie unterzeichnet mit „Mrs. Signorelli-Gordon“. Signorelli? Offenbar ist Monica mit einem Italiener verheiratet. (Und mit diesem Namen verbindet sich einer der größten Renaissance-Maler Italiens: Luca Signorelli, dessen Hauptwerk das dreiteilige Fresko Das Jüngste Gericht in der Capella Nuova in Orvieto ist. Das Jüngste Gericht, Paradies und Verdammnis: Kappacher, dem so viel Zurückhaltung nachgesagt wird, ist in der symbolischen Aufladung seiner Figuren geradezu aufdringlich!)
Wesselys Träume drehen sich um Monica, vor, während und nach der Reise. Sie ist die Ursache und das Ziel dieser Expedition, deren Höhepunkt in der Besichtigung der Jahrtausende alten Felsmalereien der Great Gallery besteht: rätselhafte, lebensgroße Figuren. Hier vermischen sich Realität und Traum:
„Ich ging auf der linken Seite der Gallery entlang, bis ich vor einer Figur beinah erschrak: Es musste die Abbildung des Holy Ghost sein, von der Everett während der Wanderung kurz gesprochen hatte. Die Figur war größer als die anderen, durchsichtig, mit riesigen Augenhöhlen und einem bis zum Nabel skizzierten schmalen Bart. Dicht neben ihm zur Seite zwei ganz schwarz gemalte kleinere Figuren, offensichtlich Frauengestalten“ (114-115).

In dem Roman, dessen Titel Kappacher als Überschrift für sein drittes Kapitel gewählt hat, Onettis De vida breve (1950), erfindet sich die vom Leben frustrierte Hauptperson ein Alter Ego in der imaginierten Kleinstadt Santa Maria, einen Arzt, der sich in eine Patientin verliebt. In einem selbsttherapeutischen Akt spielt die Hauptperson mit dieser Figur allerlei alternative Möglichkeiten des Lebens durch, freilich ohne damit zu einer wirklichen Lösung zu kommen. Dies ist auch das poetologische Prinzip in Kappachers Roman. Wessely ist nicht Kappacher, er ist sein Avatar.

Mittwoch, 6. Juni 2012

Venus geht vorbei


Venus und Cupido (1525), Lucas Cranach der Ältere
Das selteneSchauspiel war in Groningen gut zu sehen.

Der schlimme Einfluss der Holländer auf die Deutschen

Zu meiner Sammlung von Holland-Texten aus der deutschen Literatur gehört natürlich auch Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz (1827). Ein ständig wiederkehrendes Stereotyp ist der kalte Kaufmannsgeist der Holländer. Hier erfahren wir, wie sich dieser über den Rhein in die treudeutschen Gemüter eingeschlichen hat:

Vom Holländer-Michel will ich Euch aber erzählen, was ich weiß, und wie die Sage von ihm geht. Vor etwa hundert Jahren, so erzählte es wenigstens mein Ehni, war weit und breit kein ehrlicheres Volk auf Erden als die Schwarzwälder. Jetzt, seit so viel Geld im Land ist, sind die Menschen unredlich und schlecht. Die jungen Burschen tanzen und johlen am Sonntag und fluchen, daß es ein Schrecken ist; damals war es aber anders, und wenn er jetzt zum Fenster dort hereinschaute, so sag' ich's und hab' es oft gesagt, der Holländer-Michel ist schuld an all dieser Verderbnis. Es lebte also vor hundert Jahren und drüber ein reicher Holzherr, der viel Gesind hatte; er handelte bis weit in den Rhein hinab, und sein Geschäft war gesegnet, denn er war ein frommer Mann. Kommt eines Abends ein Mann an seine Türe, dergleichen er noch nie gesehen. Seine Kleidung war wie die der Schwarzwälder Burschen, aber er war einen guten Kopf höher als alle, und man hatte noch nie geglaubt, daß es einen solchen Riesen geben könne. Dieser bittet um Arbeit bei dem Holzherrn, und der Holzherr, der ihm ansah, daß er stark und zu großen Lasten tüchtig sei, rechnet mit ihm seinen Lohn, und sie schlagen ein. Der Michel war ein Arbeiter, wie selbiger Holzherr noch keinen gehabt. Beim Baumschlagen galt er für drei, und wenn sechs an einem Ende schleppten, trug er allein das andere. Als er aber ein halb Jahr Holz geschlagen, trat er eines Tages vor seinen Herrn und begehrte von ihm: "Hab' jetzt lang genug hier Holz gehackt, und so möcht' ich auch sehen, wohin meine Stämme kommen, und wie wär' es, wenn Ihr mich auch 'nmal auf das Floß ließet?"

Der Holzherr antwortete: "Ich will dir nicht im Weg sein, Michel, wenn du ein wenig hinaus willst in die Welt, und zwar beim Holzfällen brauche ich starke Leute, wie du bist, auf dem Floß aber kommt es auf Geschicklichkeit an, aber es sei für diesmal." Und so war es; das Floß, mit dem er abgehen sollte, hatte acht Glaich (Glieder), und waren im letzten von den größten Zimmerbalken. Aber was geschah? Am Abend zuvor bringt der lange Michel noch acht Balken ans Wasser, so dick und lang, als man keinen je sah, und jeden trug er so leicht auf der Schulter wie eine Flözerstange, so daß sich alles entsetzte. Wo er sie gehauen, weiß bis heute noch niemand. Dem Holzherrn lachte das Herz, als er dies sah; denn er berechnete, was diese Balken kosten könnten; Michel aber sagte: "So, die sind für mich zum Fahren; auf den kleinen Spänen dort kann ich nicht fortkommen." Sein Herr wollte ihm zum Dank ein paar Flözerstiefel schenken; aber er warf sie auf die Seite und brachte ein Paar hervor, wie es sonst keine gab; mein Großvater hat versichert, sie haben hundert Pfund gewogen und seien fünf Fuß lang gewesen.

Das Floß fuhr ab, und hatte der Michel früher die Holzhauer in Verwunderung gesetzt, so staunten jetzt die Flözer; denn statt daß das Floß, wie man wegen der ungeheuern Balken geglaubt hatte, langsamer auf dem Fluß ging, flog es, sobald sie in den Neckar kamen, wie ein Pfeil; machte der Neckar eine Wendung und hatten sonst die Flözer Mühe gehabt, das Floß in der Mitte zu halten, um nicht auf Kies oder Sand zu stoßen, so sprang jetzt Michel allemal ins Wasser, rückte mit einem Zug das Floß links oder rechts, so daß es ohne Gefahr vorüberglitt, und kam dann eine gerade Stelle, so lief er aufs erste G'stair (Gelenk) vor, ließ alle ihre Stangen beisetzen, steckte seinen ungeheuren Weberbaum in den Kies, und mit einem Druck flog das Floß dahin, daß das Land und Bäume und Dörfer vorbeizujagen schienen. So waren sie in der Hälfte der Zeit, die man sonst brauchte, nach Köln am Rhein gekommen, wo sie sonst ihre Ladung verkauft hatten; aber hier sprach Michel: "Ihr seid mir rechte Kaufleute und versteht euren Nutzen! Meinet ihr denn, die Kölner brauchen all dies Holz, das aus dem Schwarzwald kommt, für sich? Nein, um den halben Wert kaufen sie es euch ab und verhandeln es teuer nach Holland. Lasset uns die kleinen Balken hier verkaufen und mit den großen nach Holland gehen; was wir über den gewöhnlichen Preis lösen, ist unser eigener Profit."

So sprach der arglistige Michel, und die anderen waren es zufrieden; die einen, weil sie gerne nach Holland gezogen wären, es zu sehen, die anderen des Geldes wegen. Nur ein einziger war redlich und mahnte sie ab, das Gut ihres Herrn der Gefahr auszusetzen oder ihn um den höheren Preis zu betrügen, aber sie hörten nicht auf ihn und vergaßen seine Worte, aber der Holländer-Michel vergaß sie nicht. Sie fuhren auch mit dem Holz den Rhein hinab, und Michel leitete das Floß und brachte sie schnell bis nach Rotterdam. Dort bot man ihnen das Vierfache von dem früheren Preis, und besonders die ungeheuren Balken des Michel wurden mit schwerem Geld bezahlt. Als die Schwarzwälder so viel Geld sahen, wußten sie sich vor Freude nicht zu fassen. Michel teilte ab, einen Teil dem Holzherrn, die drei anderen unter die Männer. Und nun setzten sie sich mit Matrosen und anderem schlechten Gesindel in die Wirtshäuser, verschlemmten und verspielten ihr Geld; den braven Mann aber, der ihnen abgeraten, verkaufte der Holländer-Michel an einen Seelenverkäufer, und man hat nichts mehr von ihm gehört. Von da an war den Burschen im Schwarzwald Holland das Paradies und Holländer-Michel ihr König; die Holzherren erfuhren lange nichts von dem Handel, und unvermerkt kamen Geld, Flüche, schlechte Sitten, Trunk und Spiel aus Holland herauf.


Der komplette Text ist hier. Das Märchen ist 1950 als erster Farbfilm der DDR-Filmgesellschaft DEFA verfilmt worden. Der Film steht komplett auf YouTube. Hier ist der Trailer von damals:


Freitag, 1. Juni 2012

Adiletten

Nur selten stoße ich auf ein deutsches Wort, das ich nicht kenne, aber vielleicht lese ich ja die falschen Bücher. Jetzt kam mir in einem Roman das Wort „Adiletten“ über den Weg gelaufen. Das musste ich nachschlagen, und als ich merkte, dass um etwas ganz Alltägliches geht, dass sich täglich an den Füßen von Abermillionen Frauen und Männern befindet, ja, sich sogar irgendwann mal an meinen eigenen befunden hat, kam doch eine gewisse Verunsicherung in mir auf: Wie kann es sein, dass ich in all den Jahrzehnten seit der Lancierung der Adiletten im Jahre 1963 durch Adi Dassler, dem Namensgeber von Adidas, dieses Wort nie gehört oder gelesen habe? Alzheimer vielleicht?

Dabei bin ich sonst durchaus auf der Höhe: So weiß ich, Alzheimer ein deutscher Arzt war, der als erster die Demenzerkrankung beschrieben hat, dass sich Adidas (eine Marke, die ich nie getragen habe) von Adi Dassler herleitet, der die Schuhe für die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 hergestellt und somit die Grundlage für die erste deutsche Weltmeisterschaft gelegt hat. Und ich weiß auch, dass Haribo (der deutsche Versuch, „drop“ herzustellen) von „Hans Riegel Bonn“ kommt, dem Erfinder der Goldbärchen: „Haribo macht Kinder froh. Und Erwachsene ebenso!“ Und Hertie (seit 2008 pleite) kommt von Hermann Tietz und heißt so seit der „Arisierung“ 1933, nach der der Name des jüdischen Besitzers nicht mehr geführt werden durfte. Und ich weiß auch, dass die Firma Boss, deren Hosen mir so gut stehen, früher die SS-Uniformen geschneidert hat und während des Krieges Zwangsarbeiter beschäftigte. Irgendwie endet man immer wieder beim Krieg.

Aber „Adiletten“? Nee…